Ich habe mir die Tage ein paar Gedanken zu unterschiedlichen Herangehensweisen bei der Charaktererschaffung gemacht. Herausgekommen sind 2 verschiedene Ansätze, die ich kurz erläutern möchte. Wer weitere kennt, darf die gerne posten, die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Anschließend will ich meinen bevorzugten Ansatz anhand eines Beispiels erläutern. Spieler, die einen anderen Ansatz bevorzugen, können gerne eigene Beispiele aus dem echten Rollenspiel-Leben posten.
1. Die Inside-Out-Charaktererschaffung
In diesem Fall erschafft der Spieler erst ein relativ klares Bild über das Innenleben des Charakters, sein Wertebild, seine Motivationen, Wünsche und Ängste, seine Verbindungen zu NSCs. Meist hängt da die Herkunft direkt mit dran. Erst wenn dieses Bild steht, werden die Spielwerte für den Charakter ermittelt, also Attribute, Talente etc., und zwar in der Art, dass sie dem Innenleben des Charakters bzw. dessen Rolle innerhalb der Story genügen.
Im Extremfall gibt es überhaupt kein Äußeres. Bei Freeform-Spielen wie auch bei konfliktbasierten Spielen ist es oft so, dass der Charakter sich größtenteils über sein Innenleben definiert und eine genauere Ausprägung seiner physischen Kompetenzen komplett entfällt oder sehr kurz gerät.
2. Die Outside-In-Erschaffung
In diesem Fall hat der Spieler das physische Bild des Charakters im Kopf, wie er aussieht, wie stark, intelligent oder geschickt er ist, was er kann und was er besitzt. Wenn die Werte verteilt sind, überlegt man sich eine passende Hintergrundgeschichte, die erklärt, wieso der Charakter so ist, wie er ist, ein paar Motivationen als Futter für den SL.
In Extremfällen hat man weder Hintergrundgeschichte noch Motivationen. Beides wird entweder während der Spielsitzungen entwickelt, wie es einem gerade einfällt, oder gleich ganz ignoriert, weil es keine Relevanz hat.
Es gibt Spielsysteme, bei denen sogar die Hintergrundgeschichte mechanisch bestimmt wird, siehe Traveller.
Es ist vorstellbar, dass man Charaktere auch in einer Art Mischmasch erschafft, z.B. indem man Werte erst definiert, aber wieder abändert, während man sich über Hintergrund und Motivationen Gedanken macht, bzw. dass man zwar zuerst das Innenleben des Charakters definiert, dieses aber ändert, weil es nicht zu Fähigkeiten passt, die man unbedingt haben möchte.
Wo sehe ich Vor- oder Nachteile?
Für Immersions- oder Storyspieler ist aus meiner Sicht der erste Ansatz geeigneter, da von vorneherein eine hohe Identifikation mit der Rolle vorhanden ist. Nachteile ergeben sich, wenn man stark herausforderungsbasiert spielt, weil der Charakter eher auf Basis von Herkunft, Zielen und inneren Werten entworfen wurde und deshalb nicht oder wenig optimiert ist. Andere Charaktere werden meistens ein höheres Powerlevel erreichen.
Methode 2 hat zudem den Vorteil, dass man ruckzuck zum Spielen kommt. Seine Attribute und Fähigkeiten braucht der Charakter sowieso. Wenn man den Ballast auf später verschiebt, hat man weniger Vorlaufzeit, bis man beginnen kann.
Beispiel:
Mein Unknown Armies-Charakter, der demnächst an den Start geht, wurde auf Inside-Out-Basis erschaffen.
Grundgedanken gab es dabei zwei: Unknown Armies spielt in der heutigen Zeit und befasst sich eingehend mit Obessionen, extremen Verhaltensweisen und Fragen zur Identiät. Als Musikfreak habe ich die Möglichkeit genutzt, einen Musiker zu spielen, und als zweiten bedeutenden Aspekt, als großen inneren Konflikt, das Thema Selbstbestimmung vs. Erwartungsdruck gewählt.
Um den Charakter besser definieren zu können, gibt es vier emotionale Aspekte, die auch mechanische Auswirkungen haben, Obsession, Wut, Furcht und Tugend. Jeder dieser vier Aspekte sollte mit bestimmten Inhalten belegt sein, die das entsprechende Verhalten auslösen.
Heraus kam folgendes:
Joachim (Atze, Ace) Senscheid ist 23 und Musikstudent an der Uni Frankfurt. Er hat bereits mit 9 angefangen Klavier zu spielen, später kam noch Geige hinzu. Inzwischen kommt er mit allen Streichinstrumenten ganz gut klar, außerdem noch mit der Gitarre.
Musik war für ihm immer schon Abenteuer. Es ging darum, neues auszuprobieren, Grenzen auszuloten und wenn möglich Ketten zu sprengen. Mit dem profanen Radio-Popzeugs und Mainstream-Rock hat er nix am Hut, genauso mit altbackener Klassik und Oldschool-New Orleans- und Chicago-Jazz. Besonders allergisch reagiert er auf den ganzen Konserven-Schmodder, der seit Ende der 80er den Markt überflutet, Boygroups, Möchtegernstars aus Casting-Shows, die ganzen Fuzzies und Tussen, denen es nicht um die Musik geht, sondern darum, ein Star zu sein, die ihre Songs nicht einmal selbst schreiben.
Sein besonderes Interesse gilt der Avantgarde, die versucht, Rock, Jazz und Klassik miteinander zu verschmelzen. Aus dem Grund hat er auch das Projekt Fifth Ace ins Leben gerufen, in dem er selbst als Violinist und gelegentlich als Gitarrist dabei ist. Hier wird einigermaßen das umgesetzt, was Ace sich so vorstellt, nur der Durchbruch bleibt noch aus (ich kann bei Bedarf Hörproben liefern).
Bewusstseinsverändernde Drogen sind bei Versuchen, aus musikalischen Konventionen auszubrechen, natürlich von elementarer Bedeutung. Ace wirft sich seit seiner Jugend ein, was er kriegen kann, solange es die Wahrnehmung verändert und nicht körperlich abhängig macht: Cannabis gehört zum guten Ton, aber auch Psilocin, Yohimbin, Mescalin, LSD und Salvia Divinorum werden nicht verschmäht.
Obsession: Was treibt dich an?
Der Drang, ein bahnbrechendes musikalisches Kunstwerk zu schaffen
Wut: Was bringt dich in Rage?
Modern Talking und Dieter Bohlen, Boygroups, austauschbare musikalische Massenware, Castingshows. Eigentlich muss ich bloß Radio oder Fernseher anmachen und werde wütend.
Furcht: Wovor hast du Angst?
Abhängigkeit. Nicht nur Drogen, z.B. auch Mäzene, die Einfluss auf mein musikalisches Schaffen nehmen wollen, oder eine Familie, die mich nötigt, mich anzupassen und Konventionen zu folgen, die Erwartungen an mich hat, die ich erfüllen soll
Tugend: Wofür riskierst du etwas?
Dafür, dass jemand den Mut hat, "sein" Ding zu machen, ohne sich dabei reinreden zu lassen, seine Überzeugungen zu leben, ohne Kompromisse einzugehen, sich nicht von den Erwartungen anderer beeinflussen zu lassen
Jetzt hat man ein gutes Bild davon, wer dieser Mensch ist. Auf der Basis erhält er seine Attributswerte.
Auf die vier Attribute Körper, Geschwindigkeit, Verstand, Seele darf man 220 Punkte verteilen.
Ace ist Musiker, Geschwindigkeit = Geschicklichkeit sollte also hoch sein. Er ist außerdem Musikstudent und recht begabt, sollte also recht helle sein. Dass er gerne Drogen nimmt, passt recht gut mit dem gängigen Bild des abgemagerten Junkies zusammen, das Klischee nehme ich gleich mit. Seele sollte ok sein, damit er eine gewisse Bühnenpräsenz hat.
Körper 40
Geschwindigkeit 70
Verstand 60
Seele 50
Die Skills schenke ich mir für den Moment
Wie sieht es bei euch aus? wie erschafft ihr Charaktere?