Jury-Feedback:
Das Große Erwachen landet mit seiner Bilderwelt einen echten Volltreffer, und damit meine ich nicht nur die opulente Gestaltung, sondern auch die Bilder, die bereits beim Lesen der ersten Zeilen vor meinen Augen entstehen. Gut, das Exposé ist eigentlich eher ein Teaser, als ein richtiges Exposé, aber sei’s drum, die geballte Macht von über Kopf hängenden Wolkenkratzern, in denen sich ein mystischer Kampf von Technik gegen Natur abspielt, umschwirrt von Elementargeistern – wäre auf jeden Fall mal eine extrem geile Welt für ein Jump’n’Run auf der Konsole. Und für ein Rollenspiel-Setting?
Der Ansatz: Keine Hüpffiguren, sondern echte Menschen sollen die Charaktere sein, wie du und ich. So weit, so gut, funktioniert in The Cube auch hervorragend. Außerdem sollen sie „erwacht“ sein, aha. Eigentlich soll das aber nur heißen, dass sie „Helden“ sind, also doch nicht du und ich, sondern eher Tom Cruise in Mission: Impossible, der sich über Kopf an der Hyperwinde abseilt. Na ja. Ich fand The Cube ja cooler als M:I. Bedeutend cooler. Na egal, jedenfalls: Panel-Crawling, also eine Menge Erkundung und Abenteuer auf dem Weg an die Oberfläche.
Richtig geil finde ich diese Überkopf-Idee, vor allem mit dem Konstrukt, dem begrabenen kollektiven schlechten Gewissen, den Verlierern der hochtechnisierten Traumstadt, die jetzt plötzlich am Drücker sind, besser dastehen, vermutlich auch überlebensfähiger sind. Das ganze wird schön beschrieben und ist mit Unmengen Details und Ideen gespickt, die mir größtenteils sehr gut gefallen, die Elementare, die über die Stadt verteilten Artefakte, die rückwärts sprechenden Wilden, so Kleinigkeiten wie das seltene Papier, auf dem fast immer etwas Wichtiges steht, der Jargon… das Ganze ist sehr inspirierend, mein Kreativ-Motor arbeitet sofort auf Hochtouren, findet tausend Möglichkeiten, daraus interessante Orte zu schnitzen.
Die Karten sind sehr cool, auch der mythische Hintergrund gefällt mir. Der Schreibstil ist, von wenigen Ausrutschern abgesehen, richtig mitreißend. An vielen Stellen hätte ich mir noch mehr Details gewünscht, aber na ja, ich weiß, der Word Count.
Hier ist wo ich vielleicht gespart hätte: Die Traumreisen. Erstens bin ich mir aufgrund der Beschreibung nicht ganz sicher, wie das laufen soll. Wer kann denn das nun? Alle Charaktere? Wie ist das mit den Kalendern gedacht? Und was machen die dann da in der Vergangenheit? Ist das so Butterfly Effect-mäßig, oder wie? Klingt schon irgendwie interessant, aber mir persönlich ein bisschen too much, das sind ja fast schon zwei Spiele in einem. Dann hätte ich auch noch mehr zu „Dreamhaven that was“ gebraucht. Damit scheint mir das etwas überfrachtet. Vielleicht aber auch nur wegen der 5.000 Worte.
Stattdessen hätte ich lieber noch ein paar wirklich konkrete Abenteuerideen bzw. Spielleiterhinweise gehabt. Oder mehr Situations-Versatzstücke wie die bei den Karten. Oder mehr NSCs/Gemeinschaften. Nicht unbedingt die Kulte, das fand ich eher sehr cool, dass die dann doch nicht, wie befürchtet, Vampire-Clan-mäßig daher kamen, und eigentlich mit einem Satz abgefrühstückt waren. Jedenfalls scheint es noch verdammt viel zu Dreamhaven zu sagen zu geben, und ich würde das gerne lesen, auch wenn’s 50.000 Worte sind!
Also: Sofort spielen will!! Auch länger, da steckt reichlich Gehalt drin. Sofort spielen kann? Hm, ein paar Dinge sind mir noch unklar. An ein paar Stellen wäre vielleicht doch ein bisschen trockener Erklärungs-Text hilfreich gewesen, auch wenn ich die „innerweltlichen“ Texte klasse fand. Z.B. „die Menschen stehen wieder unter dem Gesetz der Natur“, ja, klingt geil, aber was heißt denn das nun? Bitte nicht ins Unknown Armies-Gerüchte-Syndrom verfallen. Ich würde immer noch gerne die Gerüchte als Spiel spielen, aber dieses Spiel ist nicht Unknown Armies.
Anbindung an Regelwerk ist vorhanden, auch wenn ich sie mangels Kenntnis des Systems nicht beurteilen kann, gibt einen Bonus in der B-Note.
Ach ja, und eine Frage hätte ich noch: Wo waren denn jetzt eigentlich die Stichworte?
Fazit: Sehr geile Bilderwelt, sehr viele originelle Ideen, sehr inspirierend und gut geschrieben. An einigen Stellen zu unscharf, zu diffus. Wie Panel-Crawling und Traumreisen zusammen passen, da bin ich noch nicht so überzeugt. Will aber nicht ausschließen, dass beides, wenn voll ausgearbeitet, zusammen größer ist als die Summe seiner Teile. Ein Ratschlag aber, wenn ich so frei sein darf: Vergiss die „Erwachten“, und die Überkopf-Abseil-Aktionen gleich mit. Ohne Tom Cruise ist das Setting viel geiler.
Eine Runde weiter!