Noch mal zum Thema Rudelverhalten ... Als Nicht-Biologe und/oder -verhaltensforscher weiß ich nicht, ob das übertragbar ist, aber macht was draus:
Bei Rudeln verwilderter Haushunde ist eine massive Organisation des Sozial- und Jagdverhaltens beobachten. Jungtiere werden unabhängig von der leiblichen Mutterschaft gesäugt und betüddert, bei der Jagd geht es soweit, dass regelrechte Hinterhalte gelegt werden und einzelne Tiere die Funktionen von Greifern und Treibern übernehmen.
Zwischen Egoismus und Altruismus gibt es ja sehr viele Stufen, aber da sehe ich eine starke soziale Komponente. Immerhin riskieren Fähren, die fremde Junge mitsäugen, nicht genug für den eigenen Wurf zu haben. Und die Treiber riskieren, dass sie selbst keine Beute machen, weil dies die Greifer tun - trotzdem könne sie darauf bauen, gemäß der Rudel-Hierarchie an der Beute beteiligt zu werden, nicht jedoch anhand ihres unmittelbaren Wirkens bei der Jagd.
Inwiefern das ein bewusstes "Zum Wohle des Rudels" ist, darüber kann man sicher streiten. "Rudel" ist eine menschliche Bezeichnung für eine Gruppe, und generell setzt die Aufopferung für etwas Abstraktes (siehe auch Volk, Vaterland, Heimat) überhaupt erst einmal Abstraktionsvermögen voraus, welches ich Wölfen nicht unterstellen möchte. Das hat aber erst einmal nichts mit Egoismus und Altruismus zu tun (s.o.), sondern ganz einfach mit der Befähigung, das Rudel als solches zu begreifen. Ich meine mich erinnern zu können, das Rudeltiere ihre Zusammengehörigkeit nicht an der Gesamtheit festmachen, sondern an Bezugstieren. Erst durch die Verästelung der Beziehungen zwischen einzelnen Tieren (evtl. mit den Alpha-Rüden/Fähren als gemeinsamer Bezugspunkt) wird daraus ein Rudel.
Da ist der Unterschied zum Menschen gar nichts so groß, denn unsere Zusammengehörigkeiten sind ja auch eher persönlicher Natur. Einem verbindenden Prinzip (Staat) ordnen wir uns ja nur anhand von Regeln und Normen und aus Erkenntnis der sich daraus ergebenden Vorteile unter. Nur dass Menschen eben abstrakte Prinzipien überhaupt schaffen und erfassen können und Wölfe - Wie ich stark annehmen möchte! - nicht. Kurz, der einzelne Wolf weiß gar nicht, dass er in einem Rudel lebt. Er kennt seine Jagdgenossen; die Tiere, denen er sich oder die sich ihm unterordnen und als weiteren Bezug womöglich noch die Fähren, die ihn/sie gesäugt und aufgezogen haben oder die eigenen Jungtiere. Der Rest ist dynamische soziale Vernetzung (Freunde und Freundesfreunde
). Meistens bestehen Rudel ja ohnehin nur aus einer Familie, größere Zusammenschlüsse sind schon allein deshalb selten, weil die Zahl der Wölfe gering ist.
Man könnte die Ausgangssituation des Threads mit einem menschlichen Nomadengruppe/-stamm vergleichen, der von zahlenmäßig überlegenen Gegnern in die Enge getrieben wird. Die Fragestellung war,
wie die Leute reagieren, nicht
warum sie so reagieren, wie sie es tun. Ob es nun Treue gegenüber der eigenen Familie, gegenüber Freunden in der Gruppe oder aus dem Bewusstsein heraus, ein Stamm zu sein, ist eigentlich unerheblich. Selbst wenn es der rein egoistische Gedanke sein sollte "Mit den anderen komme ich selbst hier eher lebend raus ...", ist das für die Frage unerheblich, oder?
Ich vermute ja, dass ein starkes Wolfsrudel ihre Scheu vor dem Menschen durchaus überwinden können. Die Frage ist meines Wissens nach, wie stark der Stimulus für ein bestimmtes Verhalten ist. Wenn eine Wölfin wegen ihrer eigenen Jungen aggressiv reagiert, kommt es darauf an, wie beliebt diese Wölfin ist - andere werden sich ihrem Verhalten anschließen oder nicht. Wenn sie es tun, besteht wieder eine neue Lage, nämlich die drohende Haltung, bei der es (aus Perspektive der Wölfe) schon wieder fast egal ist, weshalb man eigentlich zur drohenden Haltung übergegangen ist. Was in den jeweiligen Eskalationsstufen passiert, ist bei Gruppen praktisch nicht berechenbar. Instinkte geben eine starke Richtung vor, aber situativ kann trotzdem etwas dabei herauskommen, was im genetischen Programm nicht speziell vorgesehen ist. So ein Wolf schätzt ja nicht rational ein "Das sind Menschen und die sind zahlreicher und besser bewaffnet als ich.", sondern geht er danach "Kenn ich das oder kenn' ich das nicht?".
Wölfe fassen Menschen nicht als Jagdbeute auf, aber es ist ein Irrglaube, dass sie den Menschen an sich meiden. Sie meiden Menschenansammlungen und das, mit dem sich Menschen als Kulturwesen üblicherweise umgeben. Der einzelne Mensch muss im Umgang mit wilden Wölfen immer damit kalkulieren, dass er wie jedes andere Tier eingeschätzt wird - und zwar lediglich anhand seiner Größe und seines Auftretens. Kein Tier erkennt den Menschen als Menschen, sondern nur - grob vereinfacht - als "kann ich fressen", "kann ich nicht fressen", "kann mich fressen", "kann mich nicht fressen" und sich daraus ergebenden Kombinationen. Wenn man als Mensch einem Wolfsrudel gegenüber steht und richtig reagiert, werden selbst zehn gesunde, starke Wölfe nicht angreifen. Verhält man sich als Beute, riskieren die Wölfe womöglich den Angriff - wobei man heute davon ausgehen kann, das Wölfe bereits gelernt haben, dass Menschen Ärger bedeuten und daher sehr stark zu "links liegen lassen" tendieren, was ja auch die geringe Zahl von Angriffen durch Wölfe belegt, selbst wenn es denn zu (den ohnehin seltenen) Kontakten kommt.
Unser Bild vom Wolf ist entweder das aus dem Mittelalter tradierte (der böse Wolf, Herdenvernichter) oder das rational heutige (wenige Wölfe, weit verstreut in eingeengtem Lebensraum und sich von Ballungszentren fern haltend). Bei dem Szenario dieses Threads wäre es also auch wichtig zu wissen, in welcher Zeit und Umgebung es spielen soll. Das Verhältnis von Mensch und Wolf war zur Zeit der Jäger und Sammler, während unserer Sesshaftwerdung und bis hin zur heutigen Ausbreitung unserer Spezies ein jeweils anderes.