Die Runde ist hiermit wieder eröffnet.
Erstmal:
Danke für die ermutigenden, kritischen und fast
ausschließlich konstruktiven Antworten.
Ich versuche, auf alle angesprochenen Punkte einzugehen. Das kann
naturgemäß in einen langen und mit Zitaten zerfledderten Post ausarten,
ich bitte diesbezüglich um Nachsicht.
Für mich haben sich in der Diskussion vier Punkte herauskristallisiert:
- Gültig- bzw. Nützlichkeit meiner Trennung in Theorie und Best Practices
- Verhältnis von Forschung und deren Ergebnissen zur Praxis am Spieltisch
- Sinn und Unsinn von Grundlagenforschung im gegebenen Umfeld
- Konkretisier-, Verbesser- und Erweiterung meines Theorieansatzes
Dann gehen wir die mal durch.
Gültig- bzw. Nützlichkeit meiner Trennung in Theorie und Best PracticesIch würde es nicht gleich als Aufschrei bezeichnen, aber meine Trennung
löste schon etwas Unbehagen oder Unverständnis aus.
Lord Verminaard
hat in seinem Post allerdings mehr oder weniger bewusst auf den Punkt
gebracht, worum es mir dabei geht:
Beitrag von: Lord Verminaard am 21.09.2009 | 19:21[...] zumal ja den Anwender (also mich) die Grundlagen nur bedingt
interessieren, der will ja nur denjenigen Teil wissen, der ihm in der
Anwendung nützt, am besten mundgerecht und gleich mit den naheliegenden
Schlussfolgerungen als Beilage.
Das ist der Punkt. "Rollenspieltheorie" als formschöner und praktischer
Schwammbegriff löste bei denen, die sich damit befassten, ganz unterschiedliche
Vorstellungen und Erwartungen aus. Jüngstes mir bekanntes Beispiel war
die Diskussion zur Schließung des Theorieboards, wo die "es-ist-anwendbar-
oder-sinnlos"-Fraktion sich ein fröhliches Stelldichein gab.
Sobald
sich jemand mit abstrakteren Fragestellungen befasste, stand gleich wieder
der Sinn von Theorie generell in Frage.
Du magst daran zu Recht kritisieren, die Selbstbezichtigung als Theoretiker
sei irreführend. Sie hat sich allerdings eingebürgert, und ich fürchte, wir werden
sie nicht mehr los.
Dann, befürchte ich, bin ich wohl hoffnungsloser (oder: -voller) Idealist, denn genau
dies will ich mit der Trennung erreichen. Klare Ansagen, klare Aufteilungen sind
wichtig. Mir geht es am Anfang gar nicht so sehr um das
Verhältnis von Theorie
und Praxis und deren Wechselwirkung, sondern erstmal darum, dass akzeptiert wird, dass
es die Kategorien (oder meinetwegen: Pole) "Theorie" und "Best Practices" überhaupt
gibt. Oder genauer: dass man die theoretischen Veröffentlichungen, Blogs,
Forenthreads anhand dieser Begriffe unterteilen kann und dass diese Unterteilung nützlich
ist, weil sie Klarheit und Übersicht schafft.
Beitrag von: Der Narr (Hamf) am 21.08.2009 | 19:38Mich würde interessieren, wie du zu weiten Teilen der (Allgemeinen und Fach-)
Didaktik stehst. Konzepte wie Classroom Management, Unterrichtsmethoden usw. - sind
das dann nicht auch "nur" Best Practices? Dennoch beschäftigen sich Lehrstühle an
Universitäten damit.
Ich forsche aktuell am Lehrstuhl für Mediendidaktik, und natürlich erarbeiten wir "Best
Practices" auf wissenschaftlicher Grundlage.
Der Unterschied hier ist doch, dass
in der Didaktik niemand brüllt "in den Schlamm mit dir, du bist nicht praxisrelevant",
wenn jemand mal einer eher soziologischen Fragestellung nachgeht. Es geht darum,
den Begriff "Best Practices" überhaupt in den Diskurs einzuführen.
Natürlich kann die Rollenspieltheorie der "wissenschaftlichen" Sorte die
Rollenspieltheorie der Rollenspieler als "Best Practices" beschreiben [...]
Nö, das finde ich zu sehr vereinfacht. "Best Practices" sind mehr oder weniger
fundierte Empfehlungen für die Praxis, egal von wem sie kommen. Wissenschaftliche
und hobbyistische Herangehensweise unterscheiden sich wie sonst überall auch eher
in Methodik und Verankerung in sonstiger Forschung.
Beitrag von: Haukrinn am 21.08.2009 | 19:45Ich würde sogar noch weitergehen und die (meiner Meinung eh nicht
systematisch haltbare) Trennung von Best Practices und Theorie über den
Haufen werfen, da die Entwicklung beider Linien sich nur begünstigen kann.
Diesem Vorschlag widerspreche ich ganz klar. Die aktuell vorhandene Vermischung und
der Mangel an einer klaren Selbsteinordnung der Autoren schaden meines Erachtens mehr,
als dass sie nützen. Sie führen zu einer Blockade, verdecken interessante neue
Fragestellungen und gipfeln in so irrigen Annahmen wie "Rollenspieltheorie ist tot"
(sinngemäß geäußert in der Schließungsdiskussion).
Natürlich kann sich beides begünstigen, dazu komme ich gleich. Aber ich bleibe auf dem
Standpunkt, dass in der aktuellen theoretischen Diskussion die von mir vorgeschlagene
Aufteilung nützlich ist, um ein Bewusstsein für die verschiedenen Kategorien zu schaffen.
Danach kann man über deren gegenseitige Befruchtung reden.
Tatsächlich glaube ich sogar, dass durch ein starkes Einbeziehen der praktischen
Aspekte von Beginn an sich sogar neue, sehr umfangreiche Möglichkeiten zum Erkenntnisgewinn
erschließen lassen - allein schon deshalb, weil man sich nicht in sein Elfenbeintürmchen
hockt, sondern offen und wißbegierig auf den "Endanwender" zu geht und ihn einbezieht.
Perfekte Überleitung zum nächsten Punkt.
Verhältnis von Forschung und deren Ergebnissen zur Praxis am SpieltischBeitrag von: scrandy am 21.08.2009 | 19:33Theorie im Rollenspiel ist gut, aber muss Hand in Hand mit den Best Practices entwickelt
werden, weil sie sonst wie die Pädagogik völlig am Leben vorbei geht und lediglich ihrer selbst
willen betrieben wird. Versucht man andererseits aber auch immer die Erkenntnisse aus der Theorie
am Spieltisch zu verankern und geben andererseits Best Practices, die am Spieltisch entstanden
sind, den ein oder anderen Anstoß für die Theorie, dann kann Rollenspieltheorie eine echt tolle
Sache sein und sowohl die Erkenntnisgewinnung als auch den Spieltisch beflügeln.
Ich stimme dieser Position ja grundsätzlich zu.
Mir geht es natürlich nicht darum, irgendwas
vom Spieltisch völlig Abgeschottetes zu erschaffen. Aber, und das klingt in scrandys Post schon
wieder dezent an, die Praxis darf nicht in dem Sinne Maßstab der Theorie werden, dass sie
Fragestellungen und Überlegungen behindert oder blockiert. Und das ist auch der Punkt meiner
Trennung: man wird diesen Anwendbarkeitszwang im Kopf los, mann kann sagen "OK, das hier sind
jetzt theoretische Überlegungen, keine Best Practices, das wird also erstmal nicht sofort
anzuwenden oder nützlich für den Spieltisch sein."
Beitrag von: Falcon am 22.08.2009 | 10:46Ich habe keine Ahnung in welchem Zweig Nebelland tätig ist und wieviel Praxis dazu gehört
aber z.b. in der Geologie gewinnt man oft erst ein Verständnis WIE und WARUM etwas so ist, wie es
ist, wenn man da raus geht und sich schmutzig macht. [...] Das will ich den Geisteswissenschaftlern
hier nur als Einwurf geben.
Merci. Hier haben wir einen wichtigen Punkt:
Der Spieltisch muss natürlich Grundlage der
Theorie sein. Bei populärkulturellen Forschungsobjekten müssen wir
immer rausgehen
und uns das corpus delicti anschauen. Ohne diesen Input sind die von mir im Eingangspost
aufgeworfenen Fragen ja überhaupt nicht zu beantworten.
Ich kenne inzwischen z.B. mehrere Menschen, die sich wissenschaftlich mit Kultur- und
Kommunikationsphänomenen im sportlichen Umfeld befassen, also Fanclubs, Berichterstattung
etc. Auch das ist ohne Studium des Phänomens in natura ja gar nicht sinnvoll möglich.
Das ist aber nicht zu verwechseln mit der Rückwirkung der Theorie auf die Praxis.
Der Forscher kann das Objekt der Begierde studieren, sich schlaue Gedanken dazu
machen, diese aufschreiben und fertig. Er ist
nicht verpflichtet, nur solche
theroetische Erkundungen zu leisten, die auch wieder auf das Forschungsobjekt
zurückwirken können.
Sinn und Unsinn von Grundlagenforschung im gegebenen UmfeldBeitrag von: Lord Verminaard am 21.09.2009 | 19:21M.E. rechtfertigt weder die wirtschaftliche noch die soziale Bedeutung unseres
kleinen Hobbys derart fundamentale Betrachtungen [...]
Deine Bescheidenheit in allen Ehren, aber hier bin ich anderer Meinung:
- Wissenschaft ist durch ihr Vorgehen gekennzeichnet, nicht durch ihr Objekt.
Wie "bedeutend" dieses Objekt von Zeitgenossen eingeschätzt wird, ist dafür
dankenswerterweise nicht ausschlaggebend. - Aus meiner eigenen Praxis: Rollenspiel vermag der Forschung zu digitalen Spielen, die sich
z.B. bei Fragen der künstlichen Intelligenz in den letzten zwanzig Jahren kaum bewegt hat,
starke Impulse zu geben. Digitale Spiele wiederum sind ein gewaltiger Wirtschaftsfaktor. - Spiele insgesamt haben eine große soziale Bedeutung (Lotto, Fußball, ...).
- Und: dieses komische Gruppenritual, wo sich Menschen freiwillig hinsetzen und ein
Geschehen imaginieren, dürfte wie im Eingangspost angedeutet für eine ganze Reihe
Forscher faszinierend genug sein. Sie hatten es bisher bloß noch nicht auf dem Radar.
Beitrag von: DerDolge am 21.08.2009 | 19:03Wenn man eine Theorie entwickeln möchte, ist imho in der Tat erstmal Grundlagenarbeit wichtig -
gerade, damit beim Transport in die Praxis eben nicht das passiert, was gerade im Rollenspielbereich
so oft passiert: Nämlich, dass jeder die "Fachbegriffe" doch wieder so benutzt, wie er lustig ist
und wie sie gerade zur Beförderung der eigenen Ansichten nützlich sind.
Wichtiger Punkt, ich stimme zu. Es gab in den letzten dreißig Jahren immer mal wieder
Versuche, einheitliche Begrifflichkeiten einzuführen; keiner davon konnte sich durchsetzen.
Gäbe es eine allgemein anerkannte spieltheoretische Grundlagenforschung, könnte die sich
dieser undankbaren Aufgabe annehmen und die Begriffe dann auch entsprechend durchsetzen.
Für mich ein weiterer Grund, warum wir Theorie brauchen.
Beitrag von: Der Narr (Hamf) am 21.08.2009 | 19:38Darüber hinaus sehe ich es hier ganz simpel so, dass die Rollenspieltheorie in zweierlei Hinsicht
existiert. Einmal in dem wissenschaftlichen Sinn, wie du ihn beschrieben hast. Ein zweites Mal aber
in dem Sinn, in dem er von den Rollenspielern entwickelt wurde. Diskurstheoretisch würde ich aber
mal drauf tippen, dass der von den Rollenspielern entwickelte Begriff der Rollenspieltheorie nicht
weniger Rollenspieltheorie ist als der (institutionelle) wissenschaftliche Begriff.
Diese Unterteilung gefällt mir nicht soo gut. Tatsächlich sagst Du im letzten Satz ja auch,
dass beides wohl aufs selbe rauskommt. Ich selber ziehe zwei Grenzen, womit wir bei vier
Quadranten landen:
Best Practice Theorie
+- - - - - - - - +- - - - - - - - - -+
| | |
wissen- | mit gutem | sehr rar :-( |
schaftliche | Willen: Flag | einiges auf |
Methodik | Framing ;-) | rpgstudies.net |
| | |
+- - - - - - - - +- - - - - - - - - -+
| | |
| z.B.TANELORN: | ARS-Diskussion* |
Hobby | Spielleiter- | Forge: GNS/..., |
| fragen | SIS, Railroading |
| | |
+- - - - - - - - +- - - - - - - - - -+*Die Diskussion "ARS vs. andere" ist eine Theoriediskussion, da es u.a um die Deutungshoheit
des Rollenspielbegriffs geht.
Beitrag von: Dr.Boomslang am 21.08.2009 | 22:36Zitat von: nebelland am 21.08.2009 | 17:15
Rollenspieltheorie muss sich also erstmal auf ein Fundament
stützen, das beschreibt, was ein Spiel ist, wie es grundsätzlich
funktioniert, welche Funktionen es erfüllt, welche Prozesse
dabei stattfinden.
[...] Wir haben schlicht nicht die Mittel um so was zu tun. Wir müssen uns an Interessen und
Notwendigkeiten entlang hangeln und eine vollständige Erschließung des Themas und systematische
Vorgehensweise dahinter zurückstellen.
Das ist so richtig wie bedauerlich. Ich denke, wenn wir in einigen Jahren die ersten systematischen
interdispziplinären Arbeiten zum Thema sehen, wird es erstmal ein großes Aufräumen geben.
Grundlagenforschung finde ich ok, so lange es um die Grundlagen dessen geht was man meint für
den nächsten Schritt zu brauchen. Ich sehe aber nicht dass wir erst wissen müssten was ein Spiel ist,
denn das ist zu wenig spezifisch, eine Notwendigkeit für mich nicht ersichtlich (aber ich kann mich
natürlich täuschen).
Da bin ich wieder anderer Meinung. So holt man sich nämlich wieder eine der größten Schwächen
der Forge (RIP) ins Haus: fröhlich drauflosmarschiert, Begriffe bauen, Phänomene (er-)finden
und bloß nichts mit Querverbindungen verankern. Ich halte es lieber mit einer architektonischen
Metapher: Rollenspieltheorie nach meiner bescheidenen Auffassung braucht ein
Fundament(nämlich eine Theorie des Spieles), auf dem sie aufbauen kann; sonst ist sie buchstäblich auf
Sand gebaut und wackelig. Dass diese hehre Forderung vor erheblichen praktischen Problemen
steht, ist mir selbst klar. :-/
Man kann die jetzt in beide Richtungen weiter entwickeln, sowohl in Richtung Grundlagen
(z.B.was für Eigenschaften von Spielen wirken in Rollenspielen, Historie von Rollenspielen etc.)
Hier hast Du Dich grad selbst widerlegt: um festzustellen, welche Eigenschaften von
Spielen in Rollenspielen wirken, müssen die ersteren natürlich erstmal gesichert
bekannt sein.
Konkretisier-, Verbesser- und Erweiterung meines TheorieansatzesAls erstes möchte ich bekanntgeben, dass jemand mir per PM Wissenschaftstheorie um die Ohren
gehauen hat, dass es nur so schallte.
Ich möchte ein paar dieser Punkte gekürzt und in
eigenen Worten vorstellen:
Die Aufgaben einer Wissenschaft (und damit von Rollenspieltheorie nach meiner Lesart)
bestehen im
Beschreiben,
Erklären,
Vorhersagen und teils im
Veränderndes erforschten Phänomens (das ist eine gängige Definition).
Zum Beschreiben gehören etwa
Begrifflichkeiten, zum Erklären
Ursachen und
Kausalitäten, was dann Vorhersagen ermöglicht. Das Verändern versucht dann aufgrund der
Erkenntnisse, das Phänomen
systematisch auf ein gewünschtes Ziel hin zu beeinflussen.
Nach dieser Darstellung fällt das, was ich unter "Best Practices" beschreibe, unter
"Vorhersagen" ("Wenn Du dies tust, wird sich jenes ergeben") und "Verändern" ("diese
neue Absprache / Regel / Herangehensweise löst folgende Probleme").
Ich denke, dass diese Gedanken meine ursprüngliche Skizze gut ergänzen.
Beitrag von: Gaukelmeister am 21.08.2009 | 18:01Aber abgesehen davon, dass man wohl immer noch vollständiger suchen kann, fände ich es viel
interessanter, wenn du nicht einfach nur eine Liste vorlegst, sondern erstens einige Punkte
konkretisierst (na klar ist Rollenspiel ein Kommunikationsprozess, aber was natürlich interessiert,
sind die Eigenarten der Kommunikation, die im Rollenspiel stattfindet) und zweitens systematisch in
Relation zueinander setzt und gewichtest.
Mir ist bewusst, dass du hier erst einmal nur eine sehr allgemeine Charakterisierung vorgelegt
hast. Könntest du vielleicht trotzdem etwas konkreter werden bezüglich der Systematik?
Lieber Gaukelmeister, ich bin so geehrt wie angespornt durch Deine Nachfrage. Ich habe nun
aber schon im Eingangspost vermerkt, dass schon dieser nicht die Güte und Tiefe hat, die ich
ihm eigentlich hätte angedeihen lassen müssen. Deiner Bitte nach
Konkretisierung und
systematischer In-Bezug-Setzung werde ich nun schlicht aus Zeitgründen auf absehbare Zeit
(mindestens Januar) nicht nachkommen können.
Wenn ich nämlich im oberen rechten Quadranten
bleiben will, muss das sehr sorgfältig gemacht werden, und dafür wird es die nächsten Monate
zumindest bei mir an Muße fehlen (kirilow: schweig fein still
).
EpilogZu eurer Information: während wir hier diskutieren, läuft an der Universität von Tampere in
Finnland die meines Wissens erste Vorlesung zum Thema Rollenspiele an einer regulären
Universität. Den Dozenten habe ich auf dem Knutepunkt 2009 kennengelernt. Ob ihr wollt oder
nicht, das Hobby schlägt Wellen, und seine Erforschung erfährt eine Professionalisierung.
Beitrag von: Beral am 18.09.2009 | 17:41Es fing so schön an. Ich dachte, hier werden bald Forschungsaufträge verteilt, deren
Ergebnisse nach und nach zusammengetragen und zu einer hübschen Rollenspieltheorie ausformuliert
werden.
Also wenn da echt jemand Lust drauf hat, und zwar im oberen rechten Quadranten:
bitte PM an mich.
Beste Grüße,
Florian