2. Niemand hat das Recht anderen vorzuschreiben, wie ein Begriff zu gebrauchen ist.
Ich fürchte, ich kann mich da nicht ganz anschließen. Ich habe just in den lezten Stunden einen Text gelesen, der sich mit der Zensur in der BRD beschäftigt. Ein Autor verweist in diesem Text, wie nicht anders zu erwarten, auf das Grundgesetz, Artikel 5 Satz 3: "Eine Zensur findet nicht statt." Weiter führt er aus:
Die eigentliche Wirkung jeder Zensur besteht darin, daß die Zensierten und die von der Zensur Bedrohten die Normen der Zensur internalisieren, daß sie Selbstzensur ausüben, um neuerliche Fremdzensur zu vermeiden.
Darüber kommt er zu Freud:
Zensur gegen sich selbst, gegen die eigenen Wünsche, ist eine der großen Ich-Instanzen...
und auf der nächsten Seite führt er aus:
Die Zensur von Träumen und Tagträumen ... befindet sich in dauerndem Kampf gegen die List und Macht der zum Bewußtsein drängenden Triebwünsche. Die Rigidität dieser Zensur ist nicht immer gleich und wird auch vom jeweiligen politischen Klima bestimmt, wie die Revolutionskunst, die Bekenntnisse, Selbstanklagen und formalen Radikalisierungen der Künstler in Revolten gezeigt haben. Andererseits wurde der Begriff >>Selbstzensur<< in der BRD zum selben Zeitpunkt geläufig, als auch die Zensurpraxis ihren Höhepunkt erreichte: im >>Deutschen Herbst<< 1977. Obwohl es wenig sinnvoll ist, eine statistische >>Selbstzensurquote<< zu ermitteln, weil sie nur die Oberfläche des Phänomens abfragen könnte, seien doch die von Richter und Wolff ermittelten Zahlen genannt: Einer Selbstzensur fühlten sich im Jahre 1972 - so jedenfalls nach ihrer Aussage von 1978 - 42% der befragten Redakteure unterworfen, während sich 1978 bereits 73% der Redakteure nach eigener Auffassung selbst zensierten.
Ich jedenfalls habe mich spontan gefragt, womit sich wohl das Über-Ich der verbliebenen 27% beschäftigt :-o ...
Hier werden der psychologische Zensurbegriff Freuds ["Zensur von Träumen und Tagträumen"], eine Art "politischer" Begriff von "Selbstzensur" ["vom jeweiligen politischen Klima bestimmt"] und im Kontext auch der juristische Zensurbegriff ["als auch die Zensurpraxis ihren Höhepunkt erreichte"] überganglos zu einer Einheit verschmolzen, nach der der Leser nur zu der Überzeugung kommen kann, daß das Über-Ich, auch das eigene, sich grundgesetzwidrig verhält.
Ich erlaube mir, mein Über-Ich von dieser Schuld freizusprechen. Im Grundgesetz wird etwas völlig anderes thematisiert als in der Trieblehre Freuds. Und daß ich mich in der Tat den lieben langen Tag lang selbst mit mehr oder weniger Erfolg zensiere und doch das grundgesetzliche Zensurverbot richtig und gut finde, macht mir keine Sorgen: Es wirkt nur dann selbstwidersprüchlich, wenn man nicht annimmt, daß es um zwei gänzlich verschiedene Definitionen von "Zensur" geht.
Insofern gibt es meines Erachtens gar keine andere Möglichkeit als "anderen vorzuschreiben, wie ein Begriff zu gebrauchen ist",
wann immer Termini umgangssprachlich gebräuchliche Begriff sind, die fachspezisch eingegrenzt gebraucht werden. Wer in einem Gespräch auf GG Art. 5 S. 3 verweist, bringt ins Gespräch die juristische Definition von "Zensur" ein, und wer inhaltlich darauf eingehen möchte, kann das nur sinnvoll tun, indem er sich "vorschreiben läßt, wie der Begriff 'Zensur' in diesem Kontext zu gebrauchen ist". Ebenso kann man im Rahmen einer Diskussion über die Freud'sche Trieblehre nicht sinnvoll anders als mit der psychologischen Definition des Über-Ichs als Zensoren umgehen. Man kann sonst nur das Thema des Gesprächs wieder von der Trieblehre oder vom Grundgesetz weglenken und also
nicht inhaltlich darauf eingehen. Aber auf die Freud'schen Trieblehre mit GG Art. 5 S. 3 zu antworten... ich muß ganz offen gestehen, das halte
ich für absurd.