Ich tendiere ja in Zornhaus Richtung, und möchte hier nochmal den Unterschied zwischen "umfangreich" und "komplex" betonen.
Soviele wirklich komplexe Spielwelten gibt es meiner Meinung nach gar nicht. Zumindest auf mich wirken viele Rollenspielwelten entweder sehr holzschnittartig, oder (das andere Extrem) sehr überladen/umfangreich. Und von denjenigen, die wirklich komplex sind, schaffen es nur wenige diese Komplexität griffig rüberzubringen.
Masse ist eben nicht das gleiche wie Komplexität. Einfach nur mehrere dutzend Fanatasyländer oder Planeten nebeneinanderzuklatschen und für jedes ein paar Rassen und Monster bereitzustellen schafft zwar eine umfangreiche Spielwelt, aber keine komplexe. Genauso ist es, wenn man zu einer Sache einfach viel schreibt - viel Athmo-Text schafft zwar Stimmung, hebt aber nicht den Komplexitätsgrad.
Was Komplexität letztlich ausmacht, sind Aspekte die sich auf Handlungsoptionen auswirken können. Dass es im Nachbarkönigreich elfische Eskimos gibt, die aber keinerlei Kontakt zur Aussenwelt unterhalten, erhöht die Komplexität praktisch nicht. Wenn das Nachbarkönigreich aber einen Krieg plant (oder in der Vergangenheit Kriege geführt hat und wieder einen planen könnte), dann erhöht das durchaus die Komplexität.
Letztlich ist Komplexität die Summe aller Fäden, die man gleichzeitig im Auge behalten sollte.
Beispiele:
In der Hinsicht finde ich es zum Beispiel bei Shadowrun ziemlich verfehlt, die (zum Glück gekappten) Alte-Elfen-Verbindungen nach Earthdawn als "komplex" zu bezeichnen. Es schafft eben keine neuen Handlungsansätze, dass so ein Elfen-Initiat oder alter Drache noch ein paar hundert Jahre älter ist. Es ist einfach eine nutzlose Zusatzinformation, die ausser den üblichen Elfenfans niemanden interessieren dürfte (
). Tatsächlich taugt nicht mal als Athmo-Element, weil der Fokus von Shadowrun eben auf dysterem Cyberpunk liegt, und altes Elfen-Mullemulle trägt da schlicht nix zu bei (meinen zumindest manche SR-Spieler...
).
Persönlich find ich Aventurien (im Gegensatz etwa zu Myranor) ein gutes Beispiel für eine "komplexe" Spielwelt (die dabei sogar halbwegs zugänglich aufbereitet wurde).
Die einzelnen Regionalbände für sich empfind ich nichtmal als sooo komplex. Nicht langweilig, aber viel ist Stimmungstext, die Zahl der Parteien und Mover und Shaker ist meist überschaubar, soviele regionale Elemente, die tatsächlich zu berücksichtigen sind gibt es nicht, und auch die Zahl der aktuellen Verknüpfungen mit dem Nachbarland sind meist eher überschaubar. Ist also dem "Fantasy-Flickenteppich" vieler anderer Systeme also auf den ersten Blick gar nicht sooo unähnlich.
Was bei Aventurien eben noch hinzukommt ist eine Geschichte, die nicht nur Stimmung-Hintergrund ist, sondern bis in die Gegenwart nachwirkt (alte Fehden, zweifelhafte Erbfolgen etc.). Ausserdem ein Religionen-Komplex, der viele Regionen verknüpft, und dabei doch lokal variiert. Eng damit verknüpft eine universumsumfassende Mythologie, die sowohl konkrete Ansatzpunkte (etwa Kraftlinien, Sphärenreisen) als auch Raum für Interpretationen bietet (etwa das Wesen der Sphären, die Natur der Dämonen etc.) und auch je nach Ort und Partei wieder variiert wird. Dazu dann noch ein paar "globale" Mover und Shaker (die Borbaradianer, Paktierer, der Namenlose, diverse Handelshäuser...) und es kommt da schon was zusammen.
Jeder Aspekt für sich wirkt dabei (imho) sogar noch recht überschaubar, und vieles ist hochgradig optional, aber alles zusammen erschafft schon eine sehr verknüpfungsreiche Welt mit vielen Handlungspunkten.
Da seh ich auch so ein bisschen den Unterschied zu beispielsweise Shadowrun: Das wirkt auf mich eben weniger vernetzt, die Mythologie der sechsten Welt wirkt auf mich deutlich schlanker, und die Weltumspannenden Mover und Shaker sind eben ein paar Grosskonzerne und Verbrechersyndikate. Die schaffen Komplexität, aber davon ab hat beispielsweise Seatle eben eher wenig mit HongKong zu tun, und die Komplexität kommt nur aus dem lokalen Setting. Sprich: Es gibt viel Material, aber vieles davon existiert eben nebeneinanderher.
Ein gutes Beispiel, wie man auch mit wenig Text einiges an Komplexität rausholt wäre für mich ja Degenesis: Es gibt mehrere miteinander verzahnte Kulte, von denen (gefühlt) lokal immer etwa vier tatsächlich eine Rolle spielen. Dazu je Region immer diverse Metaplot-Schwerpunkte zur Auswahl (etwa die Primer-Evolution, der Sporenkrieg, Krieg zwischen zwei Kulten,...), und es wirkt auf mich trotz der geringen Seitenzahl sehr ansatzreich.
Was mir gut gefällt ist der OPTIONALE Metaplot.
Jetzt wüßte ich ja schon gerne, warum der Rokugan-Metaplot "optionaler" sein soll als der von Aventurien. Ganz ehrlich, keine Ironie.
(Vielleicht häng ich aber auch nur zu sehr an der Fremdrasse, die sich erstmal wieder auf ein paar Jahre schlafen gelegt hat. Man stelle sich mal das Metaplot-Geschrei vor, wenn sich die Zwerge Aventuriens mal geschlossen für unbestimmte Zeit unter die Erde verkriechen würden...
)