Wenn ihr das Glück habt, in einer Stadt mit einem gut sortierten Programmkino zu wohnen, kann ich die folgenden beiden aktuellen Kinofilme empfehlen:
EXIL (Deutschland, 2020)
Als der in Deutschland lebende, aus dem Kosovo stammende Pharmaingenieur Xhafer von der Arbeit nach Hause kommt, findet er eine tote Ratte an seinem Eingangstor. Er vermutet, dass sie aus dem Labor seiner Arbeitsstelle stammt, zumal er sich in seinem Job gemobbt fühlt. Besonders seinen Kollegen Urs hat er als Verursacher in Verdacht. Erst muss er feststellen, dass wichtige E-Mails an alle anderen Mitarbeiter versendet wurden, nicht jedoch an ihn. Unterlagen und Daten, die er anfordert, erhält er nicht, gleichzeitig unterstellt man ihm beim Erstellen eines wichtigen Exposés Inkompetenz. Seine deutsche Frau, mit der er zwei kleine Töchter und einen Sohn im Säuglingsalter hat und die neben ihrer Rolle als Mutter gerade promoviert, glaubt nicht, dass dies unbedingt daran liegt, dass die Kollegen ausländerfeindlich sind, sondern beschwichtigt ihn. Xhafer sieht sich aber immer mehr Anfeindunge ausgesetzt, was sein Urteilsvermögen, seine Ehe und seine Karriere auf eine harte Probe stellt.
EXIL ist herausragend inszeniert. Die langen Einstellungen, die Kamerafahrten durch die engen Bürofluro und der sehr präzise Schnitt spiegeln perfekt das Innenleben des Protagonisten wider. Dieser wird hervorragend von Mišel Matičević dargestellt. Der Film lässt viel Raum für Ambiguität und verschiedene Perspektiven auf konkrete Situationen. Es geht nicht um klar erkennbaren Alltagsrassismus, sondern den schmalen Grat zwischen der weißen Mehrheitsgesellschaft und Menschen, die selbst migriert sind, oder deren (Groß-)Eltern dies taten, in Form von Codes, von Wir-Gefühl und von Verständnis für andere Positionen. Dabei kritisiert der Film unternehmerischen Pseudomultikulturalismus, Gespürlosigkeit für die Lebenslagen unserer Mitmenschen, Überinterpretation und den Vorwurf von Überinterpretation im Kontext von Alltagsrassismus, Hadern mit dem eigenen Urteilsvermögen, Misstrauen gegenüber den Nächsten und zuletzt die Anfälligkeit, fatale Fehler zu begehen. Letzteres wirft wiederum die Frage auf, ob und wie wir bei der Bewertung von Fehlern weiße und nicht-weiße Menschen unterschiedlich beurteilen, allerdings findet das nur auf der Metabebene des Zuschauers statt.
The Climb (USA, 2019)
Zwei Freunde sind in den Bergen im Hinterland der Côte d’Azur mit ihren Fahrrädern unterwegs. Michael ist ein passionierter Radrennfahrer, Kyle ein blutiger Amateur. Als Michael seinem Freund erzählt, dass er mit dessen Verlobter eine mehrjährige Affäre hatte, fällt Kyle fast aus allen Wolken. Auch wenn Michael ihm versichert, dass das Ganze schon lange her ist, ist die Stimmung bei der gemeinsamen Radtour im Eimer. Doch ihre Freundschaft wird mehr als nur einmal auf eine harte Bewährungsprobe gestellt.
Auch The Climb ist fantastisch inszeniert. Jeder der 7 Kapitel des Films besteht aus 1 bis 3 kleinen One-Shots. Diese Inszenierung sorgt dafür, dass das Geschehen auf der Leinwand sich trotz der subtilen Abstrusität des Films natürlich anfühlt. Dadurch entfaltet der herrliche Humor eine tolle Wirkung, da er sich nicht erzwungen anfühlt. Der Film ist dabei keine klassische Komödie, eher noch eine Tragikkömodie. Die Tragik kommt dabei glücklicherweise nie rührselig oder bedrückend daher. Hier wird nichts mit der Brechstange gemacht, sondern die Kapitel folgen geradezu einem logischen Verlauf, obwohl es nie eine direkte Überleitung von einem zum anderen gibt. Der Film wirkt auch nie artsy-fartsy, sondern einfach wie der Film, auf den die beiden Hauptdarsteller/Produzenten/Drehbuchautoren Lust hatten.
Normalerweise bevorzuge ich Synchronfassungen, hier rate ich aber zur Originalfassung (zumindest für den Fall, dass die Synchro ähnlich schlecht übersetzt ist, wie die Untertitel; "Batman" hielt der Übersetzer oder die Übersetzerin für "bad man" und übersetzte es konsequent mit "böser Mann". Wenn ihr den Film gesehen hat, wisst ihr genau, welche Szene ich meine.