Es gab eine Zeit, da waren die Helden mit einer Teflon-Schicht überzogen.
Die Verführungskräfte der Vampirkönigin ließen sie unberührt, Drohungen des Dämonenprinzen lachten sie keck ins Gesicht. Keine Verlockung, kein Schrecken war groß genug, um die tapferen Recken auch nur für Sekunden aus der Fassung zu bringen.
Doch irgendwann fand der eifrige Rollenspieler Stellen in Büchern, Filmen und Comics, in denen die Helden IRRATIONAL handelten.
Indiana Jones gefährdet die ganze Die-Welt-Vor-Nazis-Retten-Aktion durch seine Schlangenphobie! Luke lässt sich von seinen Gefühlen überwältigen und bricht sein Jedi-Ausbildung ab! Facepalm!
Aber das seltsame an der Affäre war: irgendwie machen diese Schwächen die Helden lebendiger, menschlicher, kurz: interessanter.
Die Idee von Nachteilen, Hindrances, Lastern usw. im Rollenspielreich war geboren.
Aber warum sollte man in einem oft Herausforderungsorientierten Spiel wissentlich suboptimal handeln? Die Situation ist klar: Belohnungen müssen her.
Dies geschieht in, nennen wir es Variante 1, etwa so: Der Spieler baut zu Anfang seinen Charakter und kann sich bestimmte Vorteile mit Nachteilen erkaufen.
Er kann „Bärenstark“ wählen, aber nur wenn er das auch mit „Saublöd“ bezahlt. Die Belohnung erfolgt in diesem Modell NUR bei der Charaktererschaffung. Ab Spielbeginn sind Vorteile auch wirklich Vorteile und Nachteile halt Nachteile. Diese Vorgehensweise bringt immer einen Haken, einen Stachel, die Peitsche zum Zuckerbrot mit sich. Um die Nachteile IM SPIEL auch wirklich Nachteile sein zu lassen, müssen sie harte mechanische Konsequenzen nach sich ziehen. Wer „Saublöd“ ist, wird fast automatisch seine Intelligenz-Würfe versemmeln. Wer seinen „Ehrenkodex“ brechen will, muss einen Wurf gegen XY bestehen, kriegt XP abgezogen oder das geht halt einfach nicht. Nachteile schränken ein.
Variante 1 hat allerdings so ihre Tücken.
Zunächst hat der Spieler natürlich NACH DER Erschaffung keine Motivation mehr, seine Nachteile oft im Spiel vorkommen zu sehen. Ist er schlau, wählt er in der Wüstenkampagne den Nachteil „Kälteanfällig“ sowie „Eisbärenphobie“. Dass das nicht im Sinne interessanter Charaktermodellierung ist, liegt auf der Hand. Ganz ähnlich wird der „Spielsüchtige“ Spielhallen weiträumig umgehen, und so ganz anders als sein reales Vorbild handeln.
Weiter rutscht die VERANTWORTUNG für das Ausspielen von Nachteilen bei, Zornhau nennt es „Weiche Nachteile“ (solche, die nicht direkt mechanische Auswirkungen haben), oftmals in die Hand des SL: „Ähm, der Typ hat dich grad einen *ZENSIERT* genannt.“ „Ja und? Da bleib ich kühl.“ „Bist du nicht Jähzornig?“ „Ach…ähem….stimmt!“
Warum dies so tausendfach passiert und passiert,e ist klar: Nach der Erschaffung bleibt keine Motivation, Nachteile auszuspielen.
Diese Problem erkennend wurde Variante 2 erfunden: Keine Peitsche im Spielverlauf mehr, sondern nur noch Zuckerbrot. Wer „Jähzornig“ (und es laut Char-Blatt ist) handelt, kriegt einen Bennie, einen Fate-Punkt, einen Willenskraftpunkt, mehr XP und so weiter. Meist wird dem Spieler in dieser Variante freigestellt, wie er handelt: Ist er aufbrausend, gibt’s Belohnung, wenn nicht dann halt nicht. Es ist klar, dass ab diesem Zeitpunkt „weiche“ Nachteile keine NACHTEILE im Spiel mehr sind, sonder VORTEILE. Ich habe keine EINSCHRÄNKUNGEN durch sie, sondern nur Profite! Ist es zu gefährlich, den Typen der mich angemacht hat anzugreifen? Lass ichs halt. Mach ichs doch, werde ich als Jähzorniger belohnt, als Nicht-Jähzorniger nicht.
Entsprechend ist es auch nur Konsequent, weiche Nachteile als VORTEILE zu bewerten.
Warum steht dies aber in der SAVAGE WORLDS Rubrik?
Weil dieses Spiel beide Varianten TOTAL durchmischt und keiner von beiden gerecht wird!
Bei der Erschaffung geht SV nach Variante 1 vor: Wer Nachteile nimmt, kriegt was Dafür, nämlich Fertigkeitspunkt, Edges usw. Dies wird auch den Hindrances gerecht, die ständige mechanische Nachteile haben, wie „Ugly“, „All Thumps“ usw. Merke: wir befinden uns in Variante 1. in Bezug auf die „Harten“ Nachteile. Bei den „weichen“ schwenkt SW aber um: wer „overconfident“ ist, hat IM SPIEL keine mechanischen Nachteile, wie wir es für Variante 1 als zwingend erarbeitet haben. Nein ganz nach Variante 2 bekomme ich hier BONI, wenn ich entsprechend handle (muss ich aber nicht). Overconfident ist eine Bennie-Melkkuh, mit anderen Worten: ein VORTEIL! Für dessen Wahl ich auch noch bei der Charaktererschaffung zusätzliche Vorteile einheimsen konnte! Ugly ist hingegen ein NACHTEIL, den ich nun mal nicht so einfach abschalten kann. Viele Leute würden sich freuen, wenn sie sagen könnten: „Hm, heute mal nicht hässlich!“ Oder: „Heute mal nicht lahm!“ Oder „Heute mal nicht klein!“. Zugespitzt: Nur Trottel wählen bei SW „Harte“ Nachteile.
Es kommt aber noch schlimmer: SW stellt es frei, so viele Nachteile wie man will zu nehmen, ohne zusätzliche Charaktererschaffungspunkte zu bekommen. Hier rutschen wir wieder in Variante 1: Naja, wenn jemand halt aus Rollenspielgründen seinen Charakter verkrüppeln will, soll er halt, gefährdet ja nicht die Balance.“ ABER DAS IST QUATSCH. Der Optimierer wird nämlich nur Variante 2 Nachteile (eigentlich: Vorteile!) wählen: Pacifist, Overconfident, Stubborn, Vengeful… am besten standardmäßig die ganze Palette. Sollte ne Situation aufkommen, in der es nicht ein allzu großes Risiko ist, pazifistisch zu sein: „Bennie bitte!“ Kann ich gefahrlos Rache üben: „Bennie bitte“.
Ich hoffe, mein Punkt ist klar.
Zustimmung?
Gegendarstellung?