In der Fragestellung dieses Threads werden leider gleich ZWEI sehr problematische Begriffe mit dem Begriff "Rollenspielsitzung" in Verbindung gebracht.
Zum einen der - je nach Definitions-Schwammigkeit - bis zur begrifflichen UNBRAUCHBARKEIT dehnbare Begriff "Literatur", für den wenigstens eine (zwar meinem Empfinden nach immer noch viel zu weite, aber immerhin KONKRETE) Definition im Eingangsbeitrag gegeben wird.
Und zum anderen der Begriff der "Ergebnisse einer Spielsitzung". - Hier hatte ich ja schon nachgefragt, ob z.B. der Level-Zuwachs eines Charakters, der je unabstreitbar ein ERGEBNIS einer Spielsitzung ist, zu den hier als "Literatur" zu zählenden Ergebnissen gehören soll, oder nicht.
Dazu hatte Bad Horse dann ein paar Konkretisierungen gegeben, zu denen ich etwas anmerken möchte.
Zu den "Ergebnissen" von Rollenspielsitzungen:
@Zornhau: Okay, das war vielleicht ein bißchen unklar. Mit "Ergebnis" meine ich die Geschichte, die dabei herausgekommen ist (wenn eine herausgekommen ist, aber das tut sie häufig), oder auch die Anekdoten, die hinterher im Gedächtnis haften geblieben sind.
Eine Rollenspielsitzung ist ein "Happening", ist eine fortlaufende, einmalige, UNWIEDERHOLBARE und noch nicht einmal durch Mitlaufen einer Videokamera wirklich für weiteres Rollenspiel relevant fixierbare Art von gemeinschaftlicher Beschäftigung zur Unterhaltung der AKTIVEN. - Also NICHT für Publikum gedacht, sondern für die "Selbstunterhaltung" der Ausführenden.
Das unterscheidet Rollenspielsitzungen schon einmal sehr stark von Theater-Aufführungen (selbst von Improvisationstheater!) und von (Märchen-)Erzählungen. Diese sind - unabhängig von der Wiederholbarkeit, der Fixierbarkeit - einfach grundsätzlich für ein Publikum gedacht.
Was sind denn nun KONKRETE ERGEBNISSE von Rollenspielsitzungen?
Du erwähnst eine Geschichte, die es geben kann, die es aber nicht geben muß. Und Du erwähnst Anekdoten. Also kleine Geschichtchen vor dem Spiel, im Spiel, rund um das Spiel, nach dem Spiel.
Aber Du WEICHST meinen Fragen AUS!
Ich kann SEHR KONKRETE ERGEBNISSE von Rollenspielsitzungen benennen.
Ein Charakter hat 340 XP mehr als noch bei Beginn der Sitzung.
Ein Charkater ist tot.
Ein Charakter hat sich in-game ein Schiff gekauft.
Ein Charakter ist einen Level aufgestiegen.
Ein Spieler hat keinen Charakter mehr, weil seiner gestorben ist. Er muß sich bis nächstes Mal einen neuen ausdenken.
Ein Spieler hat den höchsten Schadenswurf des Spielabends gemacht.
Ein Spieler hat eine tollen Plan zur Bewältigung eines Problems entworfen, der auch genau so wie geplant funktioniert hat.
Ein Spieler hat sich mit einem anderen Spieler über die korrekte Spielweise des Nachteils "Blutrünstig" gestritten und beide sind angesäuert heimgefahren.
Das sind ALLES sehr konkrete Ergebnisse von Spielrunden.
Und da sind sogar FIXIERBARE Ergebnisse darunter: Level-Aufstieg, XP-Zugewinn, alter Charakter hopps, Schiff gekauft. - Es ist sogar ABSICHT, daß diese Ergebnisse fixiert werden können: sie SOLLEN auf dem Charakterbogen stehen! Da stehen dann mehr XP, ein neuer Level, ein Schiff, usw.
Ist das, was man auf einem Charakterbogen notiert, also SCHRIFTLICH FIXIERT, auch "Literatur"?Immerhin sind das die im Spiel durch die Spieler erspielten, konkreten, und sogar absichtsvoll fixierbaren ERGEBNISSE der Spielrunde. - Diese Ergebnisse gelten bei Beginn der nächsten Spielrunde immer noch. Sie werden also GESPEICHERT und ÜBERLIEFERT und sind sogar UNABSTREITBAR.
Was ist mit den Spielleiter-Notizen? - Der Spielleiter notiert sich, daß die Charaktere in Gang 13 nur 9 der 14 Orks getötet hatten, der Rest ist in Höhle B3 geflohen und konnte dort Alarm auslösen. - Das ist ein ERGEBNIS einer Spielsitzung. Es ist vom Spielleiter sogar fixiert worden, und es ist gespeichert und IDENTISCH WIEDERGEBBAR bei der nächsten Spielsitzung.
"Literatur" im weitesten Sinne ist nach obiger Definition (zugegeben, die ist sehr weit gefasst) jede Art von fixierter Erzählung
Die Notizen von Spielern auf dem Charakterbogen und auf Notizzetteln, die den Spielern ausgehändigten Handouts, Kartenzeichnungen, Bilder, die Spielleiternotizen, usw. - das sind alles DIREKT mit der Rollenspielsitzung verbundene, SCHRIFTLICHE bzw. graphische DOKUMENTE. Diese müßten unter den im Eingangsbeitrag definierten "Literatur"-Begriff fallen.
Sie sind aber NICHT ERZÄHLERISCH!
Es ist sogar so, daß die MEISTEN ERGEBNISSE einer Spielsitzung eben NICHT ERZÄHLERISCHER Natur sind!
Es kommen nämlich noch die Ergebnisse aus dem Umfeld hinzu: Bierkasten geleert, Chipstüten leergefuttert, Kaffeetasse verschüttet, Würfel verloren, in Spielleiterschirm gebissen (Zahnabdrücke belegen dies!), bis 5 Uhr Morgens durchgespielt, danach noch zwei Stunden gequatscht, wie ein Zombie am nächsten Tag herumgeschlurft, den verdammten Dreck, der immer in die Bude reingeschleppt wird, weggesaugt.
Das sind AUCH alles NICHT-ERZÄHLERISCHE Ergebnisse einer Spielsitzung.
Warum sollte eine Geschichte weniger literarisch sein, nur weil sie erspielt wurde anstelle von einer Person ausgedacht?
Du gehst hier immer wieder von der leider UNZUTREFFENDEN Annahme aus, daß Ergebnisse einer Spielsitzung vornehmlich ERZÄHLERISCHER Natur seien.
Sind sie NICHT. - Genauer:
Es GIBT KEINERLEI ERZÄHLUNG am Ende einer Spielsitzung!Es existieren KEINE Anekdoten, die man auch noch nach Jahrzehnten erzählen wird (wie das Beißen in den Spielleiterschirm). Es existieren KEINE Spielberichte, die ausformuliert, aufgehübscht, und niedergeschrieben wären. Es gibt nicht einmal eine ERZÄHLUNG eines Mitspielers, was denn heute in den 8 Stunden Spielzeit passiert ist. - Braucht es auch nicht! Er war ja DABEI! Er hat es ja ERLEBT! Und alle anderen AUCH!
Wem sollen sie all das gemeinsam Erlebte denn überhaupt erzählen? - Es waren ja ALLE dabei!
Was DU als "Ergebnis einer Spielsitzung" auffaßt, das ist eine BEWUSST GESCHAFFENE und zwar BEWUSST NACH der Spielsitzung geschaffene Erzählung.
Eine Erzählung mit einem PUBLIKUM im Sinne!
Und das können auch durchaus die eigenen Mitspieler sein, denen ein Kampagnentagebuch hilft, leichter beim nächsten Mal den Anschluß an die aktuelle Situation zu finden. - Aber es ist ein Publikum ABSEITS der Zeit und des Ortes, an dem der INHALT des Erzählten ERSPIELT wurde!
Man hat am Ende einer Spielsitzung etwas ERLEBT. - Selbst, oder andere Spieler deren SC-Schicksal man miterlebt hat. -
Und das ERLEBTE kann man, wenn man will, NACHERZÄHLEN.Ich erzähle meiner Frau, wenn ich von einem Con komme, IMMER in aller Breite (und Länge), was ich alles gespielt habe, wen ich getroffen habe, wie die Würfel gefallen sind, ob das Essen gut war, usw.
Ist das "Literatur"? - Nein, natürlich nicht!
Was, wenn ich jetzt in meinem Interesse vornehmlich die Con-Umgebung einem Publikum nahebringen wollte?
Ich berichte von den Spielrundenaushängen, deren (meist mieser) Aufmachung, der Unübersichtlichkeit, den netten Orga-Leuten, die mir einen Tisch besorgten, der ALLE meine Figuren fassen konnte, dem günstigen Essen, dem miesen Kaffee, dem blöden Wichser, der mir eine Runde schier zerschossen hätte, der Durchhaltefähigkeit der Mitspieler bei der Übernachtrunde, der Sauberkeit der Toiletten, usw.
Das kann ich aufschreiben. Dann ist es - nach obiger Definition - Literatur. - Ein Con-Besuchsbericht. Einer, in welchem auch Spielrunden und deren Ergebnisse vorkommen!
"Ich konnte fünf neue Leute für Barbarians of Lemuria begeistern." (Ergebnis!)
"Ich habe nun endlich einmal das neue Warhammer FRP spielen können." (Ergebnis!)
"Mit dem blöden Wichser spiele ich NIE wieder irgendwas!" (Ergebnis!)
Aber obschon dies ERZÄHLERISCHE ERGEBNISSE sind, die sogar in schriftlicher Form abgefaßt, fixiert, überliefert wurden, wäre ich hier NICHT der Meinung, daß es sich um Literatur handelt.
Was, wenn ich jetzt in meinem Interesse vornehmlich die IN-GAME-HANDLUNG einem Publikum nahebringen wollte?
Das ist es doch wohl eher, was Dir unter dem "Ergebnis" vorschwebt, welches "Literatur" sein kann, nehme ich mal an.
Nun, wenn ich mich z.B. bei einem Spielbericht darauf beschränke die In-Game-Handlung darzulegen, dann habe ich sehr unterschiedliche Möglichkeiten dies zu tun. Ich greife einfach mal ein IN-GAME-TAGEBUCH heraus. - Hier schreibe ich aus der Sicht meines CHARAKTERS, was sich alles so zugetragen hat, natürlich GEFILTERT um die Dinge, die der SC nicht mitbekommen konnte, die ich als Spieler aber sehr wohl am Tisch erleben konnte. Dieses in-game in-character diary kann ich sogar literarisch sehr anspruchsvoll ausarbeiten, es ordentlich mit Layout und Illustrationen versehen und habe so ein auch nach Jahren noch lesbares Stück LITERATUR geschaffen.
"Literatur geschaffen"
Nochmal: LITERATUR GESCHAFFEN!
Aus dem beim Spiel ERLEBTEM, aus dem Spielerlebnis heraus, kann man als BEWUSSTEN SCHAFFENSAKT tatsächlich Literatur schaffen. Das ist aber eine völlig separate, sogar dem Rollenspielhobby eher sehr ferne (und der Fan-Fiction usw. viel nähere) Beschäftigung. - Jemand kann mehrere Jahrzehnte Rollenspiele spielen ohne auch nur einmal ein solches Stück "dramatisierter Spielrundennacherzählung" gelesen oder gar geschrieben zu haben.
Diese Art der Literatur BRAUCHT NIEMAND, der Rollenspiele als Hobby betreiben möchte.
Andersherum: Jemand der GERNE GESCHICHTEN SCHREIBT, kann sich von Rollenspielerlebnissen INSPIRATIONEN für seine Geschichten holen. Oder vom Fußballspielen. Oder vom Spazierengehen am Deich. Oder vom stundenlang im Straßencafe sitzen. ...
Hier überschneiden sich ZWEI VERSCHIEDENE Hobbys. Das Geschichtenschreiben und das Rollenspielen. - Das kann qualitativ mies oder sehr ansprechend ausgehen - je nach Begabung, Ausarbeitung, Handwerkszeug, und natürlich dem Auge des Betrachters.
Aber: Jemand der BEWUSST als Spielrundennacherzählung einen Text schreibt, der FILTERT aus der GESAMTHEIT der Eindrücke des ERLEBTEN das heraus, was er WEITERERZÄHLEN möchte!
Man bekommt also in der "in-game" Erzählung mit, daß Ritter Robert den Drachen Dragomir mit einem einzigen Hieb den Kopf abgesäbelt hat. Aber man bekommt (meist) NICHT mit, daß der Spieler von Ritter Robert beim Angriffswurf erst einen Kritischen Fehler, dann noch einen und dann - nach Ausgabe des zweiten Bennies! - einen krass explodierenden Kritischen TREFFER gelandet hat, dessen Schadenwurf der höchste der gesamten Spielsitzung war und gegen den der Drache wirklich nichts mehr machen konnte außer zu sterben. Es wird NICHT drinstehen: "Und dann würfelte der Spieler des Ritters einen Treffer mit Raise für satte 85 Punkte Schaden! Das waren 16 Wunden für den Drachen, der das nicht soaken konnte oder wollte, und dann vergeigte er auch gleich noch den Vigor-Wurf wegen Incapacitation und damit war er hin."
Spielberichte mit "Regelsystem-Sprache" finde ich eigentlich VIEL INTERESSANTER als die - zumeist nicht über einen Deutsch Vier-Minus Aufsatz hinauskommenden reinen In-Game-Geschichten. - Oft sind es mehr die SPIELLEITER, die diese auch für die Praktiker des Hobbys weit interessanteren Spielberichte anfertigen. Hier ist auch das ZIELPUBLIKUM sehr klar umrissen. ANDERE Spielleiter.
Die Navero-Chroniken enthalten eine Mischung aus In-Game-Handlung, aus Spieler-Gesprächen, aus Kommentaren des Autors, aus Würfelwurf-Ergebnissen, usw. - Und sie sind GENIAL! - Verdiente Klassiker, die JEDER, der Spielrundenaufschriebe zu schreiben beabsichtigt, kennen sollte.
Für mich ergibt sich als Fazit:
Die MEISTEN Ergebnisse von Spielrunden sind
NICHT erzählerischer Natur und eignen sich auch nicht direkt in eine Erzählung aufgenommen zu werden.
Es werden
VIELE Ergebnisse von Spielrunden formal (Charakterbogen, Spielwerte) und nichtformal (Handouts einstecken, Notizen an Abenteuer-Seitenrand kritzeln)
schriftlich fixiert.Die
Nacherzählungen von Spielrunden können aus
sehr unterschiedlichen Blickwinkeln erfolgen: Wie waren die Mitspieler? Taugte das Kauf-Szenario was? Mag ich das Regelsystem? Was ist in-game passiert? - Die In-Game-Handlung ist nur eine von vielen möglichen "Filterungen" all der Erlebnisse während einer Spielsitzung.
Ein Spielbericht wird BEWUSST (als Literatur!) GESCHAFFEN. - Das ist ein kreativer Prozess, der die ERLEBNISSE der Spielrunde nur als Inspiration verwendet. - Selbst wenn man sich bemüht so akkurat wie möglich mitzuprotokollieren, so wird man IMMER den subjektiven Wahrnehmungsfilter des Autoren verwenden. Daher können sich die Spielberichte von zwei Spielern DERSELBEN Runde auch z.T. KRASS in der Wahrnehmung und Bewertung der Ereignisse im Spiel unterscheiden! (Das kann man bei den hiesigen Session Diaries auch immer wieder feststellen - da meldet sich ein anderer Spieler als derjenige, der den Text verfaßt hatte, zu Worte - und dieselben Szenen stellen sich ANDERS dar, weil eben ein anderer Mensch das alles ANDERS aufgenommen hat, auch wenn die Würfelwürfe und Spielwerte-Änderungen exakt dieselben sein mögen).
Somit: Ist das Rollenspiel VORBEI, dann kann man - wenn man will - ans bewußte SCHAFFEN von Literatur gehen, die auf den Erlebnissen im Rollenspiel basiert.
Aber:
Das Ergebnis einer Rollenspielsitzung ist NIEMALS Literatur. Literatur wird es erst, wenn jemand BEWUSST Literatur SCHAFFEN möchte. Literatur ist somit KEIN "Abfallprodukt" von Rollenspielen.
Nicht einmal von denen, die sich selbst gerne in die Nähe von Erzählungen (Narrationen) stellen! - Im Spiel ist nämlich auch die in-game-Erzählung so sehr im Fluß, daß man erst HINTERHER wirklich erzählen kann, was eigentlich nun gespielt wurde.
Daher ist es auch völlig irrig zu meinen, man könnte durch Regeltechnik und "erzählerische Vorgaben" die NACH der Spielsitzung aufschreibbare ERZÄHLUNG in bestimmte Bahnen lenken. - Das geht nicht, weil die Erzählung NUR VOM AUTOREN SELBST gesteuert wird. Und auf den hat das Regelsystem nach Spielende KEINEN Einfluß mehr.
Besonders nicht, wenn es um Erzählungen ohne die Regelsystem-Einschübe eines Spiel-TESTS handelt.
Reine In-Game-Handlungen sind nämlich "regelsystemneutral".
Literatur ist also KEIN "Abfallprodukt" von Spielsitzungen und es ist noch nicht einmal das Produkt von "narrativen Rollenspielen", sondern NUR und AUSSCHLIESSLICH das Produkt des bewußten Willens eines "Literaturschaffenden", eines Autors. - Daß der Autor wirklich bei einer Spielsitzung mitgespielt haben muß, ist nicht einmal eine Voraussetzung. Er könnte auch als "Ghost Writer" sich nur die Nacherzählungen der einzelnen Spieler und des Spielleiters angehört haben, und dann seinen Text verfaßt haben.
Literatur bekommt man also nur dann, wenn man LITERATUR SCHAFFEN MÖCHTE. - Sonst nicht.