Und mal wieder Ornette Coleman...
Ich habe versucht, das große Ornette Coleman Mysterium zu knacken, aber es ist mir nicht gelungen.
Ich spreche von Harmolodics. Hinter diesem Wort verbirgt sich angeblich ein besonderes Improvisationskonzept, das Ornette irgendwann während (oder nach) seiner Free Jazz Phase entwickelt hat. Wenn ich die Musik seiner mittleren und späten Phase höre, merke ich zwar, dass sie sich stilistisch verändert hat, dass da aber irgendein theoretischer Überbau dahintersteht konnte ich nie erkennen.
Das Wort "Harmolodics" klingt nach nach einer Verschmelzung von Melodien und Harmonien... aber was ist darunter zu verstehen?
Ich habe ein wenig recherchiert und als Erklärung folgendes Zitat von Ornette gefunden: "harmony, melody, speed, rhythm, time and phrases all have equal position in the results that come from the placing and spacing of ideas". Mit position dürfte der Wert gemeint sein. Alle musikalischen Parameter und Aspekte sind also gleich wichtig.
Das allerdings ist höchstens eine Ästhetik, kein Improvisationskonzept. Es bleibt ja trotzdem noch die Frage, nach welchen Kriterien improvisiert wird.
Der englische Wikipedia zu dem Begriff nennt zwei mögliche Bezüge:
Zum einen serielle Musik. Das ist eine Weiterführung der Zwölftontechnik, maßgeblich von Pierre Boulez entwickelt, in der auch alle musikalischen Elemente gleichbedeutend behandelt werden. Boulez erfindet eine Technik, nach der verschiedenste Tonhöhen, Tondauern, Lautstärken und Klangfarben sich durch einen vorher festgelegten Mechanismus systematisch immer wieder neu in einem Klang zusammenfinden.
Zum anderen Überlagerungen mehrerer ähnlicher Motive, wobei der Begriff Polytonalität fällt (wenn ich beispielsweise ein Motiv in einer bestimmten Tonart gleichzeitig auf eine anderer Stufe spiele bekomme ich eine zweite Tonart gleichzeitig. Noch mehr gleichzeitig ergibt Polytonalität).
Der erste Bezug ist offenbar verwandt mit der Idee der Gleichberechtigung unterschiedlichster musikalischer Elemete. Boulez notiert seine Klänge allerdings penibel genau in Noten. Bei ihm ist nichts improvisiert.
Der zweite Bezug veranschaulicht eine Möglichkeit, wie Melodien zu Harmonien erweitert werden können. Etwas Vergleichbares findet sich allerdings in jeder polyphonen Musik.
Diese Bezüge bieten ästhetische Orientierungen, über Ornette Colemans Verfahren sagen sie nichts. Wie geht er vor?
Angeblich hat er ein Buch geschrieben "The Harmolodic Theory", das aber nicht veröffentlicht wurde. Einen kleinen Einblick bietet ein kurzer Aufsatz namens
The Harmolodic Manifesto. Hier schreibt Coleman, seine Musik könne in einem einzigen Augenblick auf alle Stile, Formen und Klänge zurückgreifen. An einer Stelle ist von Wiederholungen die Rede... allerdings von Wiederholungen gleicher Elemente auf unterschiedlichen Instrumenten (> alle Klänge). Coleman bezieht sich auf sein hin und wieder zu hörendes Wechseln zwischen Saxophon, Trompete und Geige.
Alles schön und gut, sage ich, was ich gelesen habe, habe ich verstanden. Es lässt sich aber vollkommen mit totaler Freiheit gleichsetzen. Es geht bereits völlig in der Idee von Free Jazz auf. Inwiefern besteht ein Unterschied zwischen Free Jazz und Harmolodics? Ich weiß es nicht. Auch mein Ohr verrät es mir nicht.
Auf der Aufnahme "Ornette Coleman Town Hall 1962" ist ein Stück für Streichqurtett von ihm enthalten. Es wird behauptet, dass sei sein erstes harmolodisches Werk. Ich höre es und spüre so stark wie noch nie die Verwandtschaft zur Musik der zweiten Wiener Schule (Schoenberg, Berg, Webern) der 20er und 30er Jahre. Die Musik kommt mir komponiert und nicht improvisiert vor. Inwiefern besteht ein Unterschied zwischen Expressionsimus und Harmolodics? Ich weiß es nicht. Auch mein Ohr verrät es mir nicht.
Vielleicht muss ich einen Fachmann fragen.
Ornette Coleman: Dedication To Poets And Writers