@ Coltrane:
Lass mich raten: Basie hatte die schärferen Klingen, Ellington die überzeugenderen Manöver?
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Das ist meine erste Musikvorstellung in diesem Strang ohne Link zum Anhören. Es geht um Keith Jarretts „Köln Concert“, dem bestverkauften Stück improvisierter Klaviermusik auf diesem Planeten. Wenig verwunderlich sind die Copyright-Wächter hier besonders streng. Ohne Geld gibt es nirgendwo auch nur ein Schnippselchen davon. Dennoch ist die Musik, die Keith Jarrett da 1975 in Köln eingespielt hat, allseits bekannt. Ich kenne die Aufnahme seit meiner Jugend – jeden Ton.
Zunächst ein paar Worte über das, was Jarrett da macht. Es gibt ja diesen Mythos, Jarrett wäre bei seinen Solo-Klavierabenden jedes Mal ohne Vorbereitung ans Klavier gegangen und habe einfach losgespielt. Wenn man ein einziges dieser Konzerte hört, scheint das fast unglaublich. Und viele Leute, die nur am Rand Interesse am Jazz haben, hören ja auch nur eines dieser Konzerte… das berühmte Köln Concert eben. Da stehen sie dann mit offenem Mund vor ihren Boxen und denken: „Wow! Einfach so losgespielt!“
Wenn man mehrere dieser Konzerte kennt, relativiert sich das ein wenig. Es stellt sich heraus, dass Keith Jarrett eine Art Fundus hat, in den er spontan hineingreifen kann und dessen Inhalt er immer wieder neugestalten und zusammenstellen kann.
So kommt es, dass bei seinen Solokonzerten immer wieder Passagen erklingen, die aus der Folkmusic zu stammen scheinen. Auch hymnenartige Musik, wie sie für das „American Songbook“ oder auch die ein oder andere Gospelnummer typisch ist, stellt sich immer wieder ein. Weil er ein erfahrener Jazzer ist, kann er auch auf Bebop-Floskeln zurückgreifen. Hin und wieder ergeben sich auch kürzere Passagen, in denen er seinen Melodien barocke Kontrapunkte gegenüberstellt. Er hat bezeichnenderweise auch Bachs Wohltemperiertes Klavier eingespielt. Und dann kennt er natürlich auch die atonale Avantgardemusik, von der er hin und wieder auch ein paar Brocken verwendet. Oft geraten seine musikalischen Motive in eine motorische Repetitionsmechanik hinein. Manchmal wirkt die Musik dann spröde minimalistisch, manchmal beginnt sie zu grooven.
Keith Jarrett ist vertraut mit einem weiten Spektrum unterschiedlichster Musik. Einfach so aus dem Ärmel geschüttelt und aus dem Nichts kommen seine Improvisationen aber nicht.
Kenner seiner Musik streiten darüber, welches seiner Solokonzerte das musikalisch ertragreichste ist. In diesen Diskussionen schneidet das Köln Concert oft gar nicht allzu gut ab. Dennoch ist es das mit Abstand bekannteste der vielleicht 15 Solokonzerte, die er als Livealben veröffentlicht hat.
Andere ärgern sich. Das Köln Concert war eine Weile lang verschrien als Hippie-Musik für Weicheier. Erfolgreiche Musik, die immer wieder erklingt, ruft irgendwann auch Gegner auf den Plan: Sie sind genervt von den immer wieder gleichen Girlanden und Tonkaskaden, von dem immer wieder erklingenden wollüstigen Stöhnen des Pianisten, wenn seine Musik in Fluss geraten ist, von dieser Musik, die permanent ihre großen Augen rollt und deutlich macht, wie spontan und empfindsam sie ist! …und die sonst gar kein weiteres Anliegen zu kennen scheint, als einfach nur gefällig zu sein!
Seit vielen Jahren schon gibt es eine offizielle Transkription des Konzertes. Da hat jemand akribisch jeden Ton des Albums herausgehört und aufgeschrieben, sodass es Pianisten genauso nachspielen können, wie es Keith Jarrett improvisiert hat. Das ist zu Studienzwecken toll. Über den künstlerischen Wert so einer Einspielung darf man aber wohl geteilter Meinung sein. Auf Youtube gibt es etliche „Interpreten“, die diese Transkription zum Klingen bringen. Da Keith Jarretts Aufnahme ins kollektive Unterbewusstsein eingegangen ist, fällt die kleinste Abweichung sofort auf. Das wirklich Erstaunliche ist, wie muffig all diese Neueinspielungen klingen. Sobald Jarretts Spontaneität weg ist, ist die Musik entzaubert. Ich kann daher nicht guten Gewissens eine dieser leicht zugänglichen Neueinspielungen verlinken. Man kaufe sich also bei Interesse das Originalalbum (für einen Appel und ein Ei).
Wenn ich heute Keith Jarretts Köln Concert höre, erscheint es mir wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Diese Musik lässt sich intensiv erleben, aber eben auch sehr oberflächlich zum Kaffeetrinken mit der Schwiegermutter auflegen. Und aufgrund seiner Bekanntheit sind Situationen wie die letztere viel häufiger und verstellen mir oft eine unvoreingenommene Begegnung. So denke ich beim Köln Concert in der Regel an meine Jugend und meine damaligen Freunde, Träume und Ideale. Ich entwickle nostalgische Gefühle zu einer Zeit, in der die Musik für mich noch frisch und unverbraucht war… und eigentlich gefällt mir das nicht. Ich will lieber nach vorn sehen.
Vielleicht aber kann das Köln Concert als Ausgangspunkt herhalten. Ich werde mir noch ein paar andere Keith Jarrett Platten anhören und versuchen Bezüge zu entdecken. Mit etwas Glück erscheint am Schluss auch das Köln Concert in neuem Licht.