6 hat vor einiger Zeit mal eine etwas neuere Ornette Coleman Nummer hier eingestellt. Das ist ein Mann, den ich immer ein wenig in Auge und Ohr habe, über den ich aber nach seiner Free Jazz Zeit in den 60ern nicht viel weiß. Nach dem Link von 6 bin ich irgendwann auf "Sound Grammar" gestoßen, ein Ornette Coleman Album aus dem Jahr 2005/6. Coleman hat für das Album sogar den Pulitzer-Preis bekommen (ich wundere mich, wofür man alles einen Pulitzerpreis bekommen kann).
Es ist eines seiner letzten Alben überhaupt (Coleman ist 2015 gestorben) und insofern interessant, weil der Mann hier nochmal ein paar neue Eigenkompositionen vorgelegt hat. Das Album ist aber trotzdem eine Liveaufnahme (von einem Konzert aus Ludwigshafen).
Ähnlich wie bei Keith Jarrett sehe ich auch bei Ornette Coleman eine Kontinuität zwischen seinen früheren Alben und diesem Spätwerk. Die Themen sind bei ihm meistens kurz, knackig und bizarr, die Instrumentation ist unkonventionell (er spielt hier hauptsächlich Saxophon, manchmal auch Geige und Trompete, dazu kommt ein Schlagzeuger und zwei (!) Bässe), die Improvisationen sind immer noch sehr frei. Dabei macht Ornette Coleman auf seinen Instrumenten gar nichts allzu Aufregendes. Weil er aber kein Harmonieinstrument in der Band hat, wirkt die Musik nackt und verletztlich. Jeder Ton scheint viel bedeutsamer, wenn er nicht durch irgendwelche Akkorde in irgendeinen Zusammenhang gestellt wird. Ich höre auch, dass der eine Bass gestrichen und der andere gezupft wird. Die Rolle des gestrichenen Basses ist dabei hochspannend, denn er wird variabel eingesetzt. Manchmal erzeugt er Glissando- und Tremoloklänge und sorgt für ein tiefes Grummeln. Dann liefern die beiden Bässe so eine Art doppelte Grundierung zu der Ornette dann als einziger Melodiespieler hinzukommt und hin und wieder in einen Dialog mit dem Schlagzeuger tritt. Manchmal übernimmt der gestrichene Bass aber auch die Rolle eines zweiten Melodieinstrumentes. Dann ändert sich die Balance zwischen den Beteiligten und es ergeben sich eher Dialoge zwischen Ornette und dem gestrichenen Bass.
Im Track "Once Only" liegt zunächst die zweite Situation vor. Zu Beginn dominiert der gestrichene Bass und spielt das Thema in Form von gefühlvollen Linien, der andere Bass begleitet, der Schlagzeuger liefert dazu ein paar Akzente. Ab 1:12 kommt Ornette dazu. Es ist eindeutig zu hören, dass er auf die Linie des gestrichenen Basses antwortet, ja, dessen Thema fast imitiert. So entsteht ein kleines espressives Duett. Etwa ab 1:45 löst sich Ornette vom Bassisten. Das ist der Moment, an dem wohl üblicherweise von einem Solo gesprochen werden könnte. Bei aller Freiheit enthalten Ornettes Linien immer wieder ein paar altbekannte Versatzstücke - so als taumelten ein paar traditionelle Wendungen durch seinen Kopf, die sich zwanglos zum freien Geschehen dazugesellen, dann aber schnell wieder verabschieden. Was der gestrichene Bass während dieses Solos macht, ist interessant zu verfolgen. Mal liefert er Liegetöne, mal liefert er Klangeffekte, mal liefert er eine Gegenstimme zu Ornettes Solo. Das Solo beinhaltet übrigens durchaus Kontraste und Brüche. Es ist nicht eine Steigerung oder konturlose Virtuosität, wie es im Jazz manchmal zu hören ist. Ornette schlägt Haken, spielt schräges Zeug, denkt an alte Melodien, erzeugt einen Kontrast, spielt ein wenig mit Überblastechniken, bleibt auf alle Fälle stets risikobereit und unvorhersehbar. Um 7:02 ist das Solo vorbei und das Stück endet, wie es begonnen hat: Ornette tritt zurück, es erklingen wieder die Linien des gestrichenen Basses, die diesmal ein bisschen mehr Bluesfeeling aufweisen und in eine Passage mit Doppelgriffen münden. Ab 8:32 gesellt sich Ornette wieder dazu, imitiert den gestrichenen Bass und führt das Stück zum Schluss.
Es gibt noch viel zu entdecken (zum Beispiel den gezupften Bass, der schwerer zu durchschauen ist), vielleicht genügen aber meine Beobachtungen, um zu verdeutlichen, wie spannend ich diese Musik finde (viel spannender als Keith Jarrett Konzerte beispielsweise).
Ornette Coleman: Once Only