Ich glaube, bei der Diskussion macht man sich auch viel vor. Theoretisch bestehen im Rollenspiel für die Charaktere unendlich viele Möglichkeiten der Aktion - praktisch hat jeder hier sich schon Abenteuer erlebt, wo es genau eine zugelassene und praktizierbare Option gab (und die Reduktion der Möglichkeiten fand dabei nicht notwendigerweise allein durch einschnürende Regeln statt). In der Theorie klingen wenige Regeln nach mehr Freiheit - in der Praxis profitiert von dieser Freiheit zuallererst der Spiellleiter oder der Gruppencharismatiker. In der Theorie könnten ungeregelte Seiten des Rollenspiels Raum für Spielerideen und offene Entwicklungen lassen, in der Praxis führen sie meistens nur zu Hintergrundrauschen und schlimmstenfalls zur Handwedelei.
Rollenspiele müssen meiner Meinung nach Brett- oder Würfelspielspielelemente haben, und meiner Meinung nach sogar möglichst weitreichende "Brettspielelemente". Man darf hier weitreichend nicht mit kompliziert und dröge verwechseln. Weitreichend bedeutet erstmal, dass möglichst viele Aktionen der Charaktere, ihrer Verbündeten oder der "Umwelt" (NSCs, auch Gruppen und Organisationen) spielbar gemacht werden, d.h. das Ergebnis wird mithilfe der Regeln ermittelt, also "erspielt". Reine Brettspiele sind sehr fokussiert und ermöglichen nur wenige ermittelbare Ergebnisse, und diese Ergebnisse sowie das Ermittlungsverfahren (=Regeln) sind der gesamte Spielinhalt. (Klassisches) Rollenspiel hat darüber hinaus immer noch irgendeinen weiteren Bereich, der der nicht erspielt werden kann, sondern sonstwie entschieden oder verhandelt werden muss.
Im klassischen Rollenspiel löst man das in der Regel, indem man diesen ungeregelten Bereich in einen Spielerbereich (z.B. Charaktere, ihre Ziele und ihr Innenleben) und einen Spielleiterbereich (z.B. die Umwelt der Charaktere) aufteilt und im jeweiligen Bereich die Mitspieler nach ihrem Gutdünken schalten und walten lässt. Oder man überlässt einige Aspekte des "Umwelt"-Bereichs nicht dem SL, sondern dem Spielverlag durch einen Metaplot. Einige "Indie"-Rollenspiele versuchen, den Zugriff auf diesen Verhandlungsbereich zu regeln, indem sie Erzähl- und damit Entscheidungsrechte nach Regeln verteilen. In diese Richtung geht auch Player Empowerment, wenn auch nicht so krass.
Je weniger ein Rollenspiel regelt, desto größer ist der "Verhandlungsbereich". Je mehr ein Rollenspiel regelt, desto kleiner ist der "Verhandlungsbereich". Der "Brettspielvorwurf" kommt (meiner Meinung nach!) nicht selten von Leuten, die einen großen, ungeregelten Verhandlungsbereich haben wollen (evtl. verbunden mit einer Verteilung der Zugriffsrechte auf diesen Bereich, die den SL begünstigt, aber nicht notwendigerweise).
Mal ein Beispiel: In den meisten Heroic Fantasy spielen bleibt die Psyche des Charakters dem Spieler überlassen. Dark Fantasy oder Horror-Rollenspiele regeln oft auch (zumindest in Grenzen) das Innenleben der Spielercharaktere, indem sie Mechanismen für Korruption und Wahnsinn anbieten. Damit steht der Geisteszustand der Charaktere den Spielern nicht mehr vollständig zur freien Verfügung - ob man das nun mag oder nicht (es gibt Leute, die Horrorrollenspiele spielen wollen, aber solche Mechanismen ablehnen - "wasch mich, aber mach mich nicht nass!"). In einem solchen Fall hat das Rollenspielsystem Elemente, die normalerweise allein und ungeregelt dem Willen des Spielers unterliegen, in den geregelten Bereich versetzt: über den Aspekt wird nicht mehr nach Belieben entschieden, er kann (und sollte) ausgespielt werden.
Unter der Prämisse, dass es einen geregelten Spielbereich und einen ungeregelten Verhandlungs- oder Entscheidungsbereich gibt, ist sogar die Goldene Regel in jedem Rollenspiel sinnvoll.Die berüchtigte GR kann man folgendermaßen lesen:
A) Es gibt Angelegenheiten, die regelt unser Spiel nicht - über die Angelegenheiten entscheidet der SL (oder jemand anders, meinetwegen der Gruppenkonsens).
B1) Es gibt Regeln, die behindern häufig den Spielfluss, den eure Gruppe will - diese Regeln kann, darf und soll man nach Absprache ignorieren oder ändern.
B2) Es gibt Regeln, die behindern häufig den Spielfluss, den eine einflussreiche Person eurer Gruppe (üblicherweise der Sl) haben will - diese Regeln kann, darf und soll man nach Absprache ignorieren oder ändern.
C1) Es gibt Regeln, die liefern Ergebnisse, die den von eurer Gruppe erwarteten Abenteuerverlauf stören - diese Ergebnisse und die zugrundeliegenden Regeln kann, darf und soll man nach kurzer Absprache ausnahmsweise ignorieren.
C2) Es gibt Regeln, die liefern Ergebnisse, die den von eurer Gruppe erhofften/geplanten Abenteuerverlauf stören - diese Ergebnisse und die zugrundeliegenden Regeln kann, darf und soll man nach kurzer Absprache dauerhaft ignorieren und ändern.
C3) es gibt Regeln, die liefern Ergebnisse, die den von einer Person (üblicherweise dem SL) geplanten Abenteuerverlauf stören - Ergebnisse und Regeln können nach Belieben ignoriert werden.
Im Fall A ist die Goldene Regel nämlich unvermeidlich und gehört notwendigerweise in jedes Rollenspiel, am Besten ausdrücklich so gekennzeichnet und mit dem Hinweis versehen, dass man vieles Ungeregelte, wenn es auftritt, analog zum vorhandenen Regelmaterial regeln kann.
Fall B ist primär eine Geschmacksfrage, kann aber auch ein Designfehler sein, wenn das vom betreffenden Spiel versprochene Spielerlebnis sich nicht ohne massive Regeländerungen hervorrufen lässt. Beispielsweise ein Horrorsystem, in dem "spontaner, heldenhafter Gewalteinsatz" (im Sinne der Heroic Fantasy oder des Pulp) eine erfolgreiche Problemlösungsstrategie ist.
Fall C betrifft die saublöde Situation (die sicherlich jedem schonmal passiert ist), dass eine Regelanwendung Ergebnisse hervorbringt, die ein Abenteuer nicht mehr so spielbar machen, wie es geplant ist. Dann ist eben die einfachste, billigste (und meiner Meinung nach langfristig spaßfreiste) Lösung die "Goldene Regel" - und das sollte so auch in jedem Rollenspiel stehen. Der Designfehler liegt dann oft im Abenteuer, nicht im Spielsystem.