#54
Der Tag der Begegnung
Wir schrieben den 1. Pakul. Es war abends. Ricardo hatte sich häuslich in der Nähe des Lagerkomplexes eingerichtet, um das geschehen dort zu beobachten. Wir anderen waren zu unserem Unterschlupf zurückgekehrt, und unterhielten uns noch mit dem Wälingern über die Machtstrukturen von Thalassa. Dabei erfuhren wir, das das Viachat (die Versammlung der Hundert, gebildet aus den 100 mächtigsten Magiern des Reiches) regierte, und von ihnen solche Ämter wie das des Stadtzofars und des Meereszofars vergeben wurden. Die Versammlung selbst hatte wohl vier große Parteien:
1. Die Rhadamantiten (grün): Sie vertreten den Status Quo, und stellen Skismo, den Stadtzofar
2. Leukippianer (rot): Sie sind die demokratische Fraktion. Zelotis Leukippos ist wohl gestorben, es gab damals wohl einen Verrat und/oder einen Putsch
3. Altvalianer (weiß): Sie wollen zurück zur alten Größe des Imperiums, und Sklaven nur auf den Feldern haben. Sie stellen den Meereszofar, Kappuras Jaskat
4. Neuvalianer (blau): Sie sind die progressive Fraktion, sie treten für eine gute Behandlung der Sklaven und der Dämonen ein und sind gegen Rassismus
Danach gingen wir früh schlafen, und warteten auf die Informationen von Ricardo. Der tauchte auch am nächsten Morgen wieder auf, und berichtete folgendes: Der Lagerkomplex wurde von ca. 2 Dutzend Wachen geschützt, die sich zum größten Teil um ein Wachfeuer herum aufhielten, während der Rest auf der Mauer und gelegentlich auf dem Gelände patroullierte. Der Käfig, in dem der Sklave festgehalten wurde, war an einer Stange in der Mitte des Platzes befestigt. Vor einem der vier Lagerhäuser hielten ebenfalls noch einige Orks Wache, die wohl die eingelagerten Elfen bewachten.
Als wir den Keller verlassen wollten, macht uns die Wirtin ein Zeichen, uns schnell wieder in den Keller zu verziehen. Sie sprach gerade mit einer älteren, triefnasigen Frau. Wir verschwanden wieder nach unten, und nach kurzer Zeit kam die Wirtin und berichtete, dass die Frau ein Bild von Carmen in der Hand hatte, und nach ihr gefragt hatte. Die Wirtin hatte uns nicht verraten, und hatte noch erfahren, dass die Frau die berühmte Privatdetektivin Lokarfu Sarkas war. Dies löste eine heftige Diskussion aus, ob wir etwas von dieser Dame über Carmens Doppelgängerin erfahren könnten. Carmen überzeugte mich schließlich, das sie nicht ohne weiteres mit dieser Information herausrücken würde, so dass das auch zu gefährlich sei.
Wir erledigten wir noch einen Auftrag von Tabnit, dieses Mal sollten einem säumigen Schuldner die Beine gebrochen werden. Carmen und ich fanden den Schuldner in einer fast leeren Kneipe beim Würfelspiel. Als er nicht die 800 Orobor bezahlen konnte, brach ich ihm die Beine. Seine Mitspieler griffen mich an, was sie besser nicht getan hätten. Einer richtete sogar eine Feuerlanze auf mich, die zum Glück nicht traf. Am Ende waren sie alle am Boden und ich nahm noch ein paar Orobor vom Spieltisch mit.
Welch Verrohung der Sitten! Nachdem die Gruppe das letzte Mal schon einem Kranken Handwerker das Werkzeug geklaut haben, brechen sie jetzt einem harmlosen Typen die Beine. Aber der Zweck rechtfertigt die Mittel! Nach einigem Hin und Her wurde der Plan ausgeheckt, mittels Teleport den Sklaven zu befreien. Dafür verkauften wir den Blitzstab von Eika, der immerhin 2000 Orobor einbrachte, genug, um wieder 5 Heiltränke, einen Manatrank für Carmen und (vor allem), die Spruchrolle ‚Versetzen‘ samt der notwendigen grünen Phosphorkreide zu erstehen. Wir suchten noch ein Haus, in dem wir das Ziel-Thaumagramm mit der Phosphorkreide malen konnten, und fanden ein leerstehendes Lagerhaus, ca. 200 Meter vom Lagerkomplex des Quirinius entfernt. Carmen lies sich von Ricardo zeigen, wie man sich am besten zum Beobachten des Komplexes auf einem Hausdach versteckt (inklusive der Strohmatte, um gegen Entdeckungen aus der Luft geschützt zu sein). Ich malte währenddessen das Thaumagramm auf den Boden des Lagerhauses. Dann machte ich mich leise, still und heimlich auf den Weg. Auch wenn ich sonst gerne voranging, hatte ich bei dieser Aktion richtig Angst, da ich ganz allein auf mich gestellt sein würde – und gegen 24 Wachen und ein paar Orks hätte ich keine Chance außer der Flucht. Ich wartete, bis die Wachen sich gerade wieder etwas entfernt hatten, und erkletterte dann in mehreren Versuchen die Mauer. Mich wieder innen in den Hof herabzulassen, war ein Kinderspiel, und niemand schien mich bemerkt zu haben. Danach tat ich so, als sei ich einer der Küchensklaven, der zu dem gefangenen Sklaven ging. Ich sprach ihn leise mit seinem Namen an. „Willst Du hier raus?“, fragte ich ihn, „dann gib mir Deine Hände.“ Ich konzentrierte mich noch darauf, etwas besser im Lesen einer Schriftrolle zu sein, und gab ihm meine Hände. Dann musste ich noch eine gute Position finden, um im Schein des Wachfeuers die Schriftrolle entziffern zu können. Aber auch das glückte, und ich sprach den Zauber. Wir tauchten beide wohlbehalten im Lagerhaus auf. Erstaunlicherweise hatte dieser Plan von A bis Z geklappt. Kurze Zeit später traf auch Carmen wieder wohlbehalten ein, und erzählte, dass einer der Orks wohl bemerkt hatte, dass der Sklave weg war, aber offensichtlich der Meinung war, dass ihn das nichts anging, jedenfalls unternahm er nichts und schlug auch keinen Alarm.
Wir erfuhren von dem Sklaven, dass er erwischt worden war, als er von Eunomaios, einem Mann, der mir ähnlich sah, aus der Kanalisation zurückkehrte. Wir beschlossen, diesen Eunomaios aufzusuchen. Der Sklave führte uns in die Kanalisation. Nach einiger Zeit erreichten wir einen herunterhängenden Teppich, hinter dem einige Harfenklänge ertönten. Wir betraten den Raum, fast schon ein Kellersaal, über und über mit Teppichen ausgelegt und behangen, der mit vielen Kerzen hell erleuchtet war. Es hielten sich ca. 30 Menschen (vermutlich alles Haussklaven) hier auf. Eunomaios war zur Zeit in einem Nebenraum, und wir erfuhren von den Anwesenden, das Eunomaios als Prophet verehrt wurde, fast schon ein Gott. Deshalb durfte man ihn auch nicht stören. Nach einiger Zeit tauchte er dann aus dem Nebenraum auf, und wurde auf uns aufmerksam gemacht. Er kam zu uns. Er war ein Mann, der mir sehr ähnlich sah, nur mit Glatze, etwas kugelbäuchiger und nicht so durchtrainiert. Er begrüßte uns durch einen Händedruck, und liess sich dann auf dem Teppich nieder, um mit uns zu reden. Die Anwesenden bildeten zum größten Teil einen respektvollen Kreis um uns und hörten dem Gespräch zu.
Bei der Unterhaltung mit ihm wurde schnell klar, dass er die Ansicht vertrat, man solle vollständig im Hier und Jetzt leben. An frühere Ereignisse konnte oder wollte er sich nicht mehr erinnern, diese betrachtete er als unwichtig. Ich sagte ihm meinen Namen und wo wir herkamen, aber er wollte nicht über seine Vergangenheit sprechen. Die Unterhaltung fing an, ziemlich philosophisch zu werden, und es machte mir Spaß, mit ihm über seine Thesen zu diskutieren. Ein Schreiber schrieb alle Aussagen von Eunomaios auf, um sie der Nachwelt zu überliefern. Carmen wirkte gelangweilt von der ganzen Unterhaltung und rollte nur mit den Augen. Ich fühlte mich hingegen, als sei ich nur der böse Schatten von Eunomaios, und alles Gute aus mir herausdestilliert zu Eunomaios geworden. Er vertrat nämlich auch eine strikte Ablehnung des Kampfes, und der Gewalt, und ich hatte den Eindruck, als bedauere er mich ein bisschen dafür, dass ich ein Kämpfer war. Aber sollte man das Böse einfach so gewähren lassen? Dieser These von ihm konnte ich überhaupt nicht zustimmen. Ich vermutete, dass er zuviel während der Gefangenschaft bei den Seemeistern erlitten hatte, so dass er nur noch vergessen wollte. Ein freundlicher Mann, aber unnahbar, im Jetzt versunken. Heimat war für ihn da, wo das Herz ist, aber die Liebe lehnte er ab, da dann die Gedanken nicht im Hier und Jetzt waren. Mich erinnerte die Diskussion an Maria, und das ich sie vermisste. Womöglich würde ich sie nie wiedersehen. Wäre es dann besser, sie nie geliebt zu haben? Nein, nein und abermals nein. Er wollte jedenfalls nicht über seine Vergangenheit sprechen, was Carmen zu der leisen Bemerkung hinterher veranlasste: „Was für ein Arschloch.“ Ich stimmte Carmen nur insofern zu, als das von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Aber ihn als so negativ hinzustellen, nur weil er uns nicht helfen wollte, fand ich nicht gut. Ich sagte aber nichts dazu, weil ich mich nicht mit Carmen streiten wollte. Wer weiss, was dieser Mann in den letzten Jahren durchgemacht hatte, vermutlich vor allem zu Anfang mehr Leid, als je jemand erfahren würde. Mich beeindruckte seine Fähigkeit, Hoffnung in der tiefsten Hoffnungslosigkeit zu finden, und diese dann auch noch an seine Anhänger weiterzugeben. Hier war jedenfalls ein Mann, der im Frieden mit sich selbst lebte, ein besserer Mann als ich selbst, auch wenn ich nicht so leben wollte wie er.
Von seinen Anhängern erfuhren wir mehrere Geschichten über seine Herkunft: Er sei von einer Jungfrau geboren, nein, aus einem Spiegel gekommen, oder noch andere Geschichten. Das mit dem Spiegel hörte sich für mich sehr plausibel an, nachdem wir uns ja auch wieder neben dem Spiegel wiedergefunden hatten. Er habe auch Begleiter gehabt, die Zahl schwankte zwischen 5 und 7, und er sei ein Gefangener der Seemeister gewesen. Mehr war aus den Anhängern nicht herauszubekommen, aber da war ja noch das Archiv der Jünger. Wir beschlossen, uns ein paar Tage Zeit zu nehmen, um in diesem Archiv ältere Aufzeichnungen herauszufinden. Das Essen hier unten war hervorragend, und nach einer Stärkung machten wir uns ans Werk. Aus den Aufzeichnungen ging folgendes hervor:
1. Eunomaios war mit mehreren Gefährten vor ca. 10 Jahren aus einem Spiegel gekommen, und von den dunklen Seemeistern samt seiner Begleiter gefangen genommen worden.
2. Später konnte er, sowie Akantus, Crixia und evtl. noch eine weitere Person (das wurde nicht ganz klar) fliehen, die anderen blieben Gefangene der Seemeister
3. Mit Akantus gab es kurz nach der Flucht einen Streit, so dass sich die beiden trennten
4. Crixia war eine Begleiterin von Eunomaios, die sich den dunklen Meistern anschloss (also vermutlich Carmens Doppelgängerin, nachdem auch Carmen dem Lagermeister vertraut vorkam). Es war die Rede von einem großen Verrat, aber was da genau passiert war, liess sich nicht mehr feststellen.
Für mich ergab das jetzt folgendes Bild:
1. Eunomaios war mein Doppelgänger
2. Crixia war höchstwahrscheinlich Carmens Doppelgängerin und hatte sich den Seemeistern angeschlossen
3. Akantus musste entweder der Doppelgänger von Tiberius oder von Oromeidon sein
4. Ricardos Doppelgänger war tot (dessen Leiche hatten wir ja im Anflug auf die Sphäre gesehen)
5. Eikas Doppelgängerin war höchstwahrscheinlich noch immer gefangen zusammen mit dem Doppelgänger von Oromeidon oder Tiberius (je nachdem, wer der Doppelgänger von Akantus war)
Das Endspiel ist eingeleitet. Mit Eunomaos ist das erste Double entdeckt, und es gibt genug Spuren, die zu den weiteren Doppelgängern führen können. Die Konfrontation mit Eunomaos (der so nicht im Abenteuer steht, sondern von mir als Gegengewicht zum martialischen Akanthus eingeführt wurde) war recht spassig. Der Spielerin von Alexandros ist so richtig klar geworden, wie weit sich der von ihr gespielte Charakter von seinen ursprünglichen pazifistischen Idealen entfernt hat. Ich bin mal gespannt, wie sich die Sache weiterentwickelt.