Für mich war die historische Betrachtung der Rollenspielentwicklung fruchtbar. Da habe ich den Kontext erkannt, der sehr viele Probleme, Diskussionen und Entwicklungen verständlich macht.
In meinen Worten:
1) Am Anfang war strategische Schlachtsimulation, quasi Schach mit Zufallselement. Das Zufallselement und die geringere Abstraktion im Vergleich zu Schach dürften das große Plus ausgemacht haben.
2) Die Schlachtsimulation wird personalisiert. Statt einer Armee führt man einen Charakter. Schauplatz ist nun die Grotte, in der man Monster schlachtete. Die Grotte als Raumgefüge gab die Struktur vor, die Regeln entschieden über Erfolg oder Misserfolg der Charakterhandlungen. Das entscheidende Plus war hier die Personalisierung des Konflikts.
3) Das Raumgefüge wurde von Grotte auf Welt ausgeweitet. Damit wurden neue Möglichkeiten geschaffen, was das entscheidende Plus dieser Entwicklung war. Allerdings war das Raumgefüge jetzt so gewaltig groß und unübersichtlich, dass es nur noch eingeschränkt als Strukturgeber fungieren konnte. Die Struktur wurde nun von der Story und ihrer Dramaturgie geliefert. Knackpunkt: Die Regeln zogen bei dieser Entwicklung nicht nach. Der Spielleiter war praktisch ohne Hilfsmittel dazu verdonnert, die dramaturgische Struktur herzustellen und die gigantische Vielfalt des Möglichen zu handhaben. Das klappte selten gut (Railroading als Notlösung) und Konflikte häuften sich.
4) Es werden Versuche unternommen, den Strukturgeber zu verregeln, damit den SL zu entlasten und eine Lösung der Konflikte herbeizuführen. Einfach nur eine Entscheidungsregel für den Erfolg von Charakterhandlungen zu liefern, reicht nicht mehr. Da es viele Möglichkeiten gibt, dem Spiel Struktur zu verleihen, entstehen auch viele verschiedene Lösungsansätze. Manche Spielsysteme regeln gruppendynamische Prozesse auf Spielerebene, andere regeln den geordneten Aufbau eines dramaturgischen Spannungsbogens, wieder andere regeln einen gezielt herbeigeführten emotionalen oder moralischen Konflikt, usw.
Das ist die Phase, in der wir uns momentan befinden. Wir sind über die Phase hinaus, als das Spielziel "Versuche die Monster zu töten" lautete. Heute werden anderslautende Ziele explizit formuliert, um sich eindeutig abzugrenzen. Die Emanzipation von Phase 2) ist aber noch nicht abgeschlossen. Der individuelle physische Kampf nimmt immer noch eine sehr dominierende Rolle ein, selbst wenn die explizite Zielsetzung etwas anderes verlauten lässt. Wir haben es aber immer häufiger mit Systemen zu tun, die dem Kampf keine Sonderregeln mehr einräumen; mit Systemen, in denen der physische Kampf tatsächlich keine Rolle mehr spielt oder nur am Rande relevant wird.
Wir haben uns auch von Phase 3) noch nicht emanzipiert. Statt eines guten Erzählspiels etablierte sich da mangels zielführender Regelwerke das Railroading als Notlösung. Aber auch hier haben wir bereits Systeme, die diese Lücke schließen oder es zumindest versuchen. Auf jeden Fall gibt es Lösungsansätze im Sinne der Problemstellung.
Wir haben außerdem Systeme, die Politik, Sozialleben und Wirtschaft simulieren, bzw. die erste Schritte in diese Richtung tun. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die Dynamik einer Welt zu erleben. Nach Charakter und Story ist damit eine neue Qualität des Spielinhalts erreicht - vielleicht sogar der Beginn einer neuen Stufe? Alles in allem sind wir auf einem guten und spannenden Weg. Wir schleppen zwei große Altlasten mit uns herum, aber wir befreien uns immer weiter davon. Mal sehen, wohin die Reise geht.