Ja, das Regelwerk ist alt und altbacken. Die bereits erwähnte Abkürzungsgeilheit der Autoren und die sehr trockene Präsentation kommen dazu. Das Ausmaß an Kopfrechenarbeit gerade bei der Charaktererschaffung ist ziemlich hoch. Und das System wie auch die Spielwelt ist eben weitaus besser dafür ausgelegt, Kleinkonflikte und sehr regionale Geschichten abzudecken als große, epische Szenarien. Das wird durch das Setting noch stärker verdeutlicht als durch das System selbst, welches Spannung eher dadurch aufbaut, dass den Charakteren furchtbare Dinge widerfahren können und dass jemand, der sich in Gefahr begibt, darin umkommen kann. Wie gesagt, dass ist eher speziell, insbesondere dann, wenn man jeden Kleinscheiß auswürfeln läßt und die Charaktere schnell mal bloß Dienstboten, Schweinehirten oder entlaufene Leibeigene sind. Was man nicht muß - ich hab durchaus schon in High Power Harn-Runden gespielt, bei denen alle Charaktere Ritter oder vergleichbares waren und die tatsächlich herausragende Individuen waren.
Auf der Haben-Seite stehen dann eher szenarische Elemente, wie die Kaldorianische Erbfolgekrise (ein Sandkastenbausatz für verschiedene Intrigen und einen saftigen Bürgerkrieg mit einer Vielzahl an verschiedenen Fraktionen und Fädenziehern - in einem Königreich das glaub ich nicht größer als Hessen sein kann) und eben ein durch das System mitgetragene Gefühl von Verletzbarkeit und Bedrohung, dass natürlich zu sehr antiheroischem Spiel einlädt. Selbst die oben erwähnten Ritter haben in aller Regel jeden Konflikt ernst genommen. Dies verleiht dem Spiel eine gewisse Ernsthaftigkeit, die meines Erachtens sehr gut zu den oft eher niedrig gesetzten Plotzielen paßt.
Bei Harnmaster geht es nicht darum, den Weltuntegang zu verhindern oder dergleichen. Die Ziele und Szenarien sind oftmals viel, viel niedriger angesetzt, bis hin zu Plotsträngen, bei denen es effektiv "nur" um die Steuern eines kleinen Weilers oder eine illegal betriebene Mühle geht. Bei DSA, wo solche Szenarien zwar auch auftauchen aber sich dann mit uralten Elfen, furchtbaren Dämonen und allgemeinen Heldentaten abwechseln, fügen sich die entsprechenden Plotpunkte wesentlich nachvollziehbarer ins Gesamtgeschehen mit ein, gerade weil System und Setting so kleinschrittig sind.
Ich kann voll und ganz nachvollziehen, dass viele, viele Spieler die üblichen Harnmaster Aufhänger als ziemlich unspektakulär wahrnehmen. Auf Grund der fiesen Auswirkungen von Verletzungen werden fast alle Parteien zudem ernsthafte Kämpfe nach Möglichkeit vermeiden, daher ist nicht viel mit Action, zu Mindest was die Quantität angeht. Dadurch unterscheidet sich Harnmaster eben sehr von Rollenspielen, die mehr Wert auf Larger Than Life Charaktere oder Szenarien legen. Und das macht Harnmaster eben zu einem Nischenspiel. Wobei Geschichten wie Bognor's Folly oder In Search of Panaga schon eher in Richtung klassischer Dungeonerkundung gehen können.
Oder anders ausgedrückt: Die Harnmasterregeln sind mittelmäßig, wenn man von den herrausragenden Wundregeln absieht. Harn als Setting ist ein herausragender Abenteuerspielplatz, wenn man sich denn die Mühe machen will, sich dem ganzen zu nähern, was in der Tat relativ viel Arbeit sein kann. Die oben erwähnte Nachfolgekrise ist beispielsweise ein herausragender Hintergrund für verschiedenste Szenarien, aber es gibt keinerlei Plot für das Geschehen - man bekommt nur die jeweiligen Kandidaten für die Thronfolge und die anderen Mächtigen des Landes an die Hand (mit samt ein paar Hinweise auf ihre Motivation, ihr Auftreten und ihre Ressourcen) und muß den Rest dann selber spinnen. Das System ist allerdings ein Stück weit eine Kröte, die man schlucken muß um sich dem Setting anzunehmen, will man nicht die ohnehin schon sehr aufwändige Einarbeitung in das Setting mit dem zusätzlichen Aufwand einer Konvertierung versehen.