Auch Königs- und Vaterlandstreue ist bei Piraten nicht ausgeschlossen...
Aber überhaupt ist das mit Genres doch so eine Sache: Ein Genre ist ein diffuser, an den Rändern fransiger und unscharfer Klumpen aus Tropen, Stereotypen, Plotstrukturen, usw., der sich sowieso mit jedem Blockbuster verändern kann und zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Sprachräumen unterschiedlich besetzt sein kann.
Bevor wir also hier anfangen, Definitionen zu zerpflücken, um den wahren Pulpbegriff zu finden, schlage ich vor, dass wir zum eigentlichen Thema zurückkommen, bzw. zu dem, worum es Jörg (glaube ich zumindest) geht:
Kann ich Mantel-und-Degen zusammen mit Piraten überhaupt spielen? Oder anders: Wie funktionieren Mantel-und-Degen oder Piraterie als thematisches Konstrukt im Rollenspiel?
Da geht es doch erstmal gar nicht drum, ob jetzt die Literaturwissenschaft diktiert, was Pulp ist, oder ob Hollywood unser Bild vom Piratengenre geprägt hat. Zumindest sehe ich das so. Denn fürs Spiel glaube ich, dass ohnehin eher die Grenzfälle und Genre-Crossovers eine Rolle spielen. Jörg hat gesagt, man solle darüber mit der Gruppe reden und das ist wohl auch gut. Aber ich glaube nicht, dass man einen "Entweder Musketiere oder Piraten!"-Dualismus fahren muss. Wenn ich eins doch grade beim Rollenspiel merke (stärker noch als bei Film und Fernsehen, wo sich das auch abzeichnet), dann, dass hier Genreklischees und Plotstereotypen gerne benutzt werden, aber bestimmt ebenso gerne gebrochen werden. Ich glaube z.B. ein reines Gut-Böse-Schema über einen langen Kampagnenzeitraum reizt viele Rollenspieler gar nicht ernsthaft über einen längeren Zeitraum. Warum packe ich dieses Argument jetzt aus?
Ganz einfach: Die meisten Rollenspielsettings, sei es by-the-book oder als Entwicklung aus der Spielgruppe hinaus, sind relativ komplex. Und sie werden im Spiel auch mit der entsprechenden Komplexität präsentiert. Der Klischeebreaker und Genregrenzüberschreiter ist da einfach ein Mittel, Settingkomplexität zu vermitteln. Nehmen wir doch direkt einmal "7te See". Das folgt nach außen ganz klar Mantel-und-Degen-Tropen, hält sich aber mit dem "Halunken"-Vorteil die Möglichkeit des Arschlochs mit dem guten Kern immer noch offen (es soll jetzt gar nicht darum gehen, ob das regeltechnisch sauber gelöst ist oder nicht) und auch klare Ehre-Einig Vaterland-Strukturen werden bei NSCs gerne gebrochen. Die Widersacher, denen die SCs begegnen müssen eben nicht immer moralisch verwerflich sein: So will ausgerechnet das Oberhaupt der grausamen Inquisition eigentlich nur ehrlich das Beste für die Gläubigen, während der überall geachtete und geliebte Opernschreiber eigentlich ein echter Fiesling ist. Und das ist nur ein Beispiel...
Feste Gut-Böse-Komplexe beim Rollenspiel bringen uns, finde ich nicht weiter, weil sie sich im Spiel recht schnell abnutzen. Mir geht es eher so, dass ich Motivation haben will und reaktionäre, politisch inkorrekte Schurken, die nach getaner Zerstörung des Highschool-Gesangsclubs ins Heim fahren, um ihre behinderte Schwester zu pflegen, doch irgendwie besser finde als dämonische Nazibösewichte, weil ich denen einfach nicht glauben kann, was sie da tun. Klar, auch das Evil-without-a-cause-Genie ist mitunter sehr unterhaltsam, aber ich glaube, dass wir in puncto Ausgestaltung von Moral und Ethik in Film wie Literatur in den letzten Jahren einige Schritte in Richtung Differenziertheit gemacht haben.
Was heißt das für die Ausgangsfrage?
Ich glaube, dass es wenig bringt, sich darüber Gedanken zu machen, ob Mantel-und-Degen und Piraterie jetzt unverträglich sind, sondern man genreübergreifender ansetzen kann, und seine Gruppe einfach fragt, wie sie den spielen möchte. Zwischen Jack Sparrow und Aramis liegt keine Mauer, sondern ein weiter, offener Grenzübergang, den man ein Stück entlanggehen kann, um dann noch in ein paar andere Richtungen abzubiegen und der Ethik eines Capitan Alatriste oder eines Solomon Kane guten Tag zu sagen. Ich sage: Mantel-und-Degen und Piraterie gehen wunderbar zusammen, wenn man sich von starren Genrebegriffen der Literatur löst, die aufs Rollenspiel ohnehin nicht so ohne weiteres anzuwenden sind. Stattdessen kombiniert man im Spiel in Absprache mit der Gruppe einfach bestimmte Elemente dieser Genres zu einem Spielthema - und dieses kann sich mit Fortschreiten der Kampagne auch ändern. Und selbst eine Gruppe mit einem beinharten Piraten und einem edelmütigen Musketier ist möglich, wenn die Spieler:
a) Out-Game-Aversion nicht als Ingame-Aversion begreifen oder
b) Durch andere Tropen und Stereotypen diese Differenzen überwinden können.
Kurz: Genredefinitionen aus Literatur oder Film bringen uns punktuell bei der Ausgestaltung von Setting und Thema (und vielleicht sogar Regelmechanik) für die Spielrunde weiter, aber nicht, wenn wir davon ausgehen, dass Rollenspiele sich bestimmten Genres unterwerfen. Rollenspiel folgt da anderen Regeln, denke ich.