Ein Aspekt beim Rollenspiel, der meinem Empfinden nach etwas stiefmütterlich behandelt wird, ist die Zuschauerrolle des Spielers. Jeder Spieler ist permanent auch in der Rolle des Zuschauers. Man schaut sich zum einen die Fiktion an, die man gemeinsam erschafft und weiterentwickelt. Beispielsweise beobachten wir, wie die Helden den Drachen erschlagen und die Prinzessin befreien, wie ein Vampir sich verliebt und dann schrecklich leidet, oder wie ein Gorilla mit Maschinengewehren in der Hand Nazizombies niedermetzelt. Als Spieler schauen wir aber auch dem Spielprozess selbst zu. Wir sehen, wie die Mitspieler Ideen aufnehmen und weiterentwickeln, wie bei einem Würfelwurf mitgefiebert wird oder wie eine Strategie für den Endkampf ausgearbeitet wird. Ich ziehe einen wichtigen Teil meiner Faszination fürs Rollenspiel aus dem, was ich beim Rollenspiel sehen kann. Damit will ich nicht natürlich abstreiten, dass es beim Rollenspiel ganz wesentlich auch ums aktive Gestalten geht. Da bin ich der Letzte, der das leugnen würde. Doch bei all der Fokussierung auf das, was ich beim Rollenspiel tun kann, sollte man nicht vergessen, dass ich beim Rollenspiel auch als Zuschauer eine ganze Menge geboten bekomme.
Lasst mich einige Dinge klarstellen. Erstens, wenn ich von Spielern spreche, dann meine ich immer alle, die mitspielen, also auch den Spielleiter, falls jemand diese Funktion innehat. Zweitens, etwas genauer wäre es wohl, wenn ich anstatt von Zuschauerrolle von Rezipienten- oder Wahrnehmerrolle sprechen würde, weil es mir nicht nur ums Sehen geht. Aber die Wörter klingen doof und der Ausdruck Zuschauerrolle ist eingängiger. Drittens, ich bezeichne es hier auch als zuschauen, wenn man der Fiktion folgt. In diesem Sinne bin ich beispielsweise auch Zuschauer der Handlung, die ich beim Lesen eines Romans vor Augen habe.
Warum ist es interessant, über die Zuschauerrolle nachzudenken? Es hilft, um sich selbst klarer darüber zu werden, was man gerne beim Rollenspiel möchte. Mehr oder weniger ausdrücklich tut man das beispielsweise, wenn man sich dafür entscheidet in Mittelerde und nicht im Stars Wars Universum zu spielen, weil man lieber bei epischen Schlachten mit Orks als mit Sturmtruppen dabei sein möchte. Ein Spiel wie Primetime Adventures rückt die Wichtigkeit der Zuschauerrolle besonders stark in den Fokus, indem die Spieler dazu aufgefordert werden, eine spannende, anregende, großartige Fernsehserie zu erschaffen. Die Frage, was genau man wahrnimmt, spielt dabei immer eine große Rolle. Optimalerweise bringen die Spieler nur solche Dinge in die Fiktion ein, die alle gerne darin sehen möchten. Welche Bedeutung der Zuschauerrolle zukommt, kann man sehr gut daran erkennen, wie wir darauf reagieren, wenn plötzlich etwas in die Fiktion eingeführt wird, mit dem wir nichts anfangen können oder das wir im schlimmsten Fall total bescheuert finden. Wenn wir Stars Wars spielen und plötzlich taucht ein Jar Jar Binks-Charakter auf, kann das dazu führen, dass mir der Spaß verhagelt wird, weil ich diese Albernheit hier nicht sehen will. Wenn ein Spieler eine brutale Szene im Detail beschreibt, ist für mich irgendwann eine Grenze überschritten, hinter der das, was ich sehe, mich zu sehr abstößt. Und wenn die Charaktere sich ausgiebig mit dem Einkaufen von Ausrüstung beschäftigen, kann das bei mir Langeweile auslösen, wenn ich lieber Action sehen möchte als Alltag.
Auch auf den Spielprozess bezogen kann ich Vorlieben dazu haben, was ich faszinierend anzuschauen finde. Ich persönlich stehe beispielsweise total darauf, Spieler dabei zu beobachten, wie sie Konflikte eskalieren lassen. Einem Konfliktdialog bei Polaris zuzuhören, kann großartig sein: man sieht die kreative Maschinerie der Spieler auf Hochtouren. Natürlich ist der Spielprozess in solch einem Fall nicht völlig losgelöst von der Fiktion. Aber es ist eben nicht nur die Fiktion, die mich hier mitreißen kann, sondern vor allen Dingen auch das Spiel der anderen. Letzteres kann man auch daran erkennen, dass das Spielerlebnis ein ganz anderes ist, wenn die Fiktion nicht durch eine direkte Entscheidung der Spieler weiterentwickelt wird, sondern durch ein Zufallselement. Dasselbe bisschen Fiktion, beispielsweise dass der Vampir sich in die Sterbliche verliebt, kann sehr unterschiedlich wahrgenommen werden, je nachdem ob ich es als das Ergebnis eines Würfelwurfs oder der Entscheidung eines Spielers ansehe. Natürlich gibt es kein Naturgesetz dazu, was ich mehr mag. Das düfte individuell unterschiedlich sein.
Ich glaube, dass das Nachdenken über die Zuschauerrolle nicht nur praktischen Nutzen haben kann, sondern auch theoretisch ergiebig ist. Beispielsweise könnte man diskutieren, inwiefern Spieler, die vor allen Dingen die Fiktion in Bewegung sehen möchten, gern einem gut erzählenden Spielleiter folgen, während Spieler, die gern die kreative Dynamik ihrer Mitspieler beobachten möchten, Spiele mit stärker verteilten Erzähl- und Einflussrechten mögen. Übrigens heißt es nicht, dass ein Spieler, der großen Wert auf die Zuschauerrolle legt, ein passiver Spieler ist. Wie gesagt, beim Gestalten der Fiktion ist man immer auch Zuschauer.
Man kann hierzu noch eine ganze Menge mehr schreiben. Vor allen Dingen kann man vieles noch viel präzisier beschreiben. Und vielleicht kommen wir darauf ja in der Diskussion zu sprechen. Aber da der Text ohnehin schon recht lang ist, möchte ich es erst einmal bei diesen vorläufigen Überlegungen belassen und euch dazu einladen, hier mitzudenken und beispielsweise auszutüfteln, wie sich die Zuschauerrolle des Spielers gut beschreiben lässt, welche Bedeutung ihr für die Faszination des Rollenspiels zukommt und wie man diese Erkenntnisse nutzen kann, um beim Rollenspiel mehr von dem zu bekommen, was man bekommen möchte. Mich interessiert, inwiefern ihr einen Wert darin erkennen könnt, über die Zuschauerrolle der Spieler nachzudenken. Und falls ihr das kritisch seht, würde ich mir gern erklären lassen, warum dies so ist.
Ich freu mich auf eure Fragen, Anmerkungen und Ideen