Daran, dass heute Rollenspiele zielführender, spielstil- und kundenangemessener produziert werden, ist was dran, würde ich sagen. Und natürlich stimmt auch, dass die nicht ganz ohne uralte Vorfahren sind. Cinematisch? Hallo TORG 1990 (gilt auch für erzählende Zufallskomponenten). Persönlichkeitsverfall? Hallo CoC 1981. Gummipunkte? Hallo Warhammer 1986.
Allerdings bin ich mir bei einigen Sachen nicht sicher, ob das nicht doch wieder eierlegende Wollmilchsäue im Schafspelz sind. Beispielsweise tritt LoA durch den FATE-Grundmechanismus, die vielen PE-Möglichkeiten sowie die Rhetorik der SL-Tipps erstmal sehr erzählspielig (NAR oder SIM[Charakter]?) auf - enthält aber dann noch Berge von Stunts im Sinne der Feats von D&D3.x, die auf eher andere Wurzeln (GAM-Bereich?) schließen lassen.
Ich will bloß einen Aspekt noch anmerken (schließlich wurde im OP ja "Discuss" gefordert):
Jedes Jahrzehnt war geprägt von gewaltigen neuen Errungenschaften im Design!
Klar, heute ist gewissermaßen die Anerkennung von und Ausrichtung auf bestimmte Spielvorlieben ein Kennzeichen. Aber in den 70ern war überhaupt die Pionier-Epoche. Die 80er hben sich um stark um den "Realismus"-Simulationsbereich gekümmert, dabei zwar viele spielerische Prinzipien verschüttet, aber auch viel Neues eröffnet. Allein die Aufspaltung von Volk und Klassen im Fantasy-RPG! Das war zwar allein dem paradigmatischen Realismus-Prinzip untergeordnet, hat aber wieder die Bahn geöffnet für die spielerbestimmte Zuteilung der Werte, und die wiederum steht in Verbindung zur vollkomenen Verabschiedung von Klassensystemen. Nicht, dass ich das irgendwie gut finde, das ging alles zulasten der Spielelemente. Als letzte Errungenschaft der 80er bleibt die Idee zu nennen, das Rollenspielrunden Geschichten spielen, das fing ja mit D&D (Drachenlanze) an, war teilweise in Warhammer enthalten und bestimmte maßgeblich das Abenteuer- und Spieldesign der 90er.
Die 90er wiederum, die aus meiner Sicht ja ein Jahrzehnt des Stillstandes und Verfalls sind, haben dennoch unbestreitbar einiges an Neuerungen zum Spiel beigetragen. Das Würfeln mit Würfelpools, so banal das klingt, ist eine wichtige Neuerung gewesen, denn der Würfelpool ermöglicht maßgeblich eine entspanntere Planbarkeit von Abenteuerplots (und der Story-Gedanke war nunmal das Paradigma der 90er). Die zweite herausragende Leistung der 90er war die Öffnung der Rollenspielsettings. Natülich gab es vorher Sci-Fi & Horror-RSPs, aber in den 90ern wurde nach meinem Eindruck versucht, alle möglichen Settings
spielbar als Rollenspiel-Setting verwendbar zu machen.
Dass man sich dabei zu wenig um die Regelanbindung kümmerte und dabei insgeheim noch oft dem 80er-Jahre Stil (viele "realistische" Regeln, exzessive Würfelorgien) anhing, war traurig, aber das schmälert keinesfalls die Leistungen der damaligen Rollenspiele. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass in den 90ern hirnrissige Ideologien aufkamen und herumgeisterten (und bis heute noch Anhänger haben), wie z.B. "Regeln sind nicht so wichtig" (eine schlimme Verzerrung von: "Regeln sind verhandelbar"). In den 90ern hätte man sich als RSP-Designer auch sagen können: jetzt sind die Goldenen Zeiten, ich kann/darf jedes Setting, das mich interessiert, als RPG-Setting benutzen! Hauptsache, man produzierte dazu ausreichend Fluff/Colour.
In den Nuller-Jahren kamen auch zwei wichtige Neue Strömungen auf, die viel mit dem schlampigen Umgang mit Regeln (und Spielermöglichkeiten) in den 90ern zu tun haben: die Indys, die versuchten, bestimmte Spielziele durch Regeln auszudrücken, und d20, was auch ein Versuch war, verbesserte, intelligente Regeln wieder im Spiel zu verankern.
Das führte nach meinem Eindruck zu einer gewissen d20erisierung des RSP. Zuerstmal wurde der Gedanke der 90er, dass alle möglichen Settings auch RSP-Settings sein können, versucht, mit d20 zu verwirklichen. D20 war quasi das, was GURPS vielleicht hätte sein sollen: das verbreitete Regelwerk, durch das man glaubte, alle Settings betreiben zu können. Auswirkungen von d20 waren auch in den Neuauflagen klassischer Spiele zu sehen, z.B. die Aufsplittung von Kampfrundenaktionen in Standardaktionen und Simple Aktionen, die explizite Verwendung der Battlemaps für Bewegungsregeln, feste Positionsboni, selbst die umstrittene Gelegenheitsattake usw. Gewissermaßen war das auch ein Goldenes Zeitalter: Man konnte endlos neue Settings entwerfen, man hatte ja die d20-Regeln als quasi-einheitliche Basis für eine Anbindung.
Die andere Entwicklung war/ist eben das Aufgreifen und Verbessern bislang nebensächlich behandelter Instrumente als Kernbestandteil zur Regelung einer Spielweise. Beispielsweise FATE, das mit den Aspekten etwas in den Mittelpunkt stellt, was "früher" in den 80ern noch über vordefinierte Vorteile, Nachteile und Hintergründe an den Charakter (der im wesentlichen aus Fertigkeiten und Attributen bestand) angepappt wurde.
Damit will ich sagen: man hat in jedem Jahrzehnt der Rollenspielgeschichte Neuerungen hereingebracht, die Dinge spielbar gemacht haben (oder es zumindest versprochen haben), die es so noch nicht gab. Das kam teilweise von Exoten, die aber oft zu Mainstream-RSPs wurden oder stark in den Mainstream zurückstrahlten. Manches funktionierte nicht so wie gedacht, und heute gibt man sich mehr Mühe, das Funktionieren nicht allein vom Goodwill des SL abhängig zu machen und arbeitet einige Sachen sauberer aus, aber in jedem Jahrzehnt wurde die Grenze des Rollenspiels erweitert. Auch in den trüben 90ern.
Edit: Vokabelfehler