Autor Thema: Cthulhu und der Horror, war: Fiktive Welte naturwissenschaftlich betrachtet?  (Gelesen 1269 mal)

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Eulenspiegel

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Ich bin ja kein großer Lovecraft-Fan oder -Kenner, aber ich glaube, der Gruselfaktor an den Großen Alten soll doch sein, dass sie die naturwissenschaftlichen Gesetze und Erkenntnisse über den Haufen werfen?
Der cthulhoide Horror erwächst daraus, dass es Naturgesetze gibt, diese aber so fremdartig und anders sind, dass wir uns diese nicht vorstellen können.

Unsere Erde ist quasi nur ein winzig kleiner Raum, in dem ein Spezialfall der Naturgesetze gelten. Diejenigen Leute, die jedoch hinter den Schleier blicken und die Gesamtheit der Naturgesetze erblicken, werden daran verrückt.

Und ich finde zum Beispiel, der cthulhoide Horror hat sehr viel mit Quantentheorie und mit Relativitätstheorie zu tun.
  • Nichteuklidische Räume sind ja ein Bestandteil der Relativitätstheorie.
  • Zwei Leute altern an unterschiedlichen Orten unterschiedlich schnell. --> Auch Bestandteil der Relativitätstheorie.
  • Wesen sind nur schemenhaft zu erkennen und du kannst ihren Aufenthaltsort nicht genau angeben, weil sie überall und nirgends sein können --> Heisenbergsche Unschärferelation (wobei das plancksche Wirkungsquantum außerhalb der Erde halt wesentlich größer ist.)
  • Wesen können durch massive Wände laufen --> Tunneleffekt

Ich denke, Leute, die in ihrer Kindheit regelmäßig Cthulhu oder Kult gespielt haben, werden es später leichter haben, Quantentheorie und Relativitätstheorie zu verstehen. Andererseits verlieren Cthulhu und Kult sehr viel an Horror, wenn man Physik studiert hat. (Und bei allem, was als Horror präsentiert wird, denkt sich der Physik-Student: "Gähn, das hatten wir bereits in der Uni-Vorlesung.")

Disclaimer:
Das war von den Machern sicherlich nicht so beabsichtigt. Aber ich habe halt diesen Eindruck.

Offline Waldviech

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Zitat
Ich bin ja kein großer Lovecraft-Fan oder -Kenner, aber ich glaube, der Gruselfaktor an den Großen Alten soll doch sein, dass sie die naturwissenschaftlichen Gesetze und Erkenntnisse über den Haufen werfen?
IMHO liegt der Horror eigentlich darin, dass die Protagonisten bei Lovecraft zumeist das Weltbild des typischen Amerikaners der 20iger Jahre haben (nahe am heutigen Bible-Belt-Bewohner) und die Großen Alten deren anthropozentrisches Weltbild niederreißen.
Im Übrigen weiß ich nicht, wie zielführend es ist, fiktive Welten nach naturwissenschaftlichen Maßgaben zu betrachten, da sie ja meistens eher nach "literarischen" solchen erschaffen werden. In Welt XYZ gibt es z.b. Zauberer, weil Zauberer für Flair und Geschichtenkanon wichtig der Welt sind - und nicht, weil sie erklären sollen dass magieähnliche Phänomene quantenphysikalisch erklärbar sind.

Zitat
Andererseits verlieren Cthulhu und Kult sehr viel an Horror, wenn man Physik studiert hat.
...oder wenn man die Menschheit nicht für das Zentrum des Universums hält. Oder wenn man kosmopolitisch eingestellt ist und "Rassenmischung" für normal und nicht weiter problematisch hält. (Man sollte nicht vergessen: Bei vielen Lovecraftgeschichten dreht sich der Horror nicht um "kosmischen Schrecken", sondern das, was man unter den Nazis "Rassenschande" nannte...für HP scheint es mitunter nichts Grausigeres gegeben zu haben, als das das Blut der edlen angelsächsischen Rasse durch "Fremdgene" verunreinigt werden könnte.)
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ErikErikson

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Kann man so sehen, muss man aber nicht. Der Horror kann auch daraus kommen, das der Mensch keinerlei Kontrolle über seine eigene Welt hat. Und ich glaube, das der moderne Mensch, also wir, die Generation sind, die sich am sichersten ist, das Ihnen die Welt gehört. Anders die 20er, wo sich die Leute darüber noch nicht ganz so sicher waren. Wir gruseln uns wahrscheinlich deshalb weniger, weil wir sicher sind, das wir (oder unsere Wissenschaftler) die Realität längst verstanden haben und Cthulhu durch die Quatentheorie theoretisch erklärbar und kontrollierbar ist, wie alles andere auch.

Offline Waldviech

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Ich bin garnicht mal sicher, dass es für Cthulhu selbst unbedingt die Quantentheorie braucht. Immerhin ist er "nur" aus dem Weltraum, (möglicherweise) intelligenter als ein Mensch und furchtbar langlebig. Außerdem ist er groß und steckt über seine (biologische?) Regenerationsfähigkeit eine Menge an Verletzungen weg, so dass er quasi-unsterblich ist. Das war es im Großen und Ganzen eigentlich schon.  ;D
Zitat
Der Horror kann auch daraus kommen, das der Mensch keinerlei Kontrolle über seine eigene Welt hat.
Richtig - das hat allerdings noch nichts mit verstehen oder nicht verstehen zu tun. Die Annahme war ja, dass der Cthulhumythos deswegen schrecklich sei, weil man ihn um´s Verrecken nicht verstehen könne. Die weitaus meisten Bestandteile des Mythos sind aber sogar sehr verständlich und per se selbst mit den Mitteln der 20iger wissenschaftlich weitgehend verstehbar - und das ist auch der Punkt, an dem dann die Protagonisten wahnsinnig werden. Sie kommen, nachvollziebar und unwiederlegbar, zu Ergebnissen, die ihnen nicht im Mindesten gefallen und/oder die auf eine ganz physische Art und Weise gefährlich sind. Kontrollverlust ist da durchaus ein Punkt - weniger aber echtes Unverständnis. Das was sich bei Lovecraft noch am ehesten im Bereich des fremdartig-unverständlichen abspielt, ist die "Farbe aus dem All". Und die ist nicht deswegen scheußlich, weil sie fremdartig wäre, sondern weil sie für Mensch, Tier und Pflanze hochgradig ungesund ist.
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ErikErikson

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Ich habe das immer so verstanden, das die Farbe schädlich ist/Cthulhu wahnsinnig macht weil er eben so unverständlich fremd ist. Beispiel: Ein Mensch aus der Steinzeit kommt in die Stadt. Die Stadt ist ihm ja nun nicht unbedingt böse gesinnt, aber er wird, aus Unkenntniss, trotzdem: Überfahren/ausgeraubt/verarscht/ausgebeutet bis zum gehtnichtmehr, und wenn er nicht sehr schnell lernt oder Hilfe bekommt, wird er wahrscheinlich irre.

Cthulhu könnte praktisch einen Teil der fremdartigen Realität mitbringen. Der Kontakt mit dieser Realität führt dann zu Wahnsinn, weil man in dieser Realität nur überleben kann, wenn man sie einigermaßen versteht.

Offline tartex

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Mir ging es gar nicht darum, wie es für die Charaktere im Lovecraft-Universum ist, sondern darum, ob das Gefühl dem Leser vermittelt wird. Ich bin großer Lovecraft-Fan (wegen der Dekadenz und Weltabgewandtheit), aber den Wahnsinn hat Lovecraft IMHO nicht gut vermittelt. Deshalb müssen da ja auch Leute mit Erklärungen zu vermitteln versuchen.
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Offline Waldviech

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Zitat
Cthulhu könnte praktisch einen Teil der fremdartigen Realität mitbringen. Der Kontakt mit dieser Realität führt dann zu Wahnsinn, weil man in dieser Realität nur überleben kann, wenn man sie einigermaßen versteht.
Ja, ich denke das trifft es zum Teil recht gut - wobei ein weiterer Teil des Problems ist, dass die Protagonisten die "Realität", sofern sie sie verstehen, meist nicht akzeptieren wollen.

Zitat
Ich habe das immer so verstanden, das die Farbe schädlich ist/Cthulhu wahnsinnig macht weil er eben so unverständlich fremd ist.
Zumindest präsentiert Lovecraft dies gerne so. Das tut er z.T. aber nicht nur bei Mythoskreaturen, sondern auch bei Chinesen, Südseeinsulanern und Afrikanern. Die meisten Mythosmonster sind, damit es Gräuslich wird, nicht nur fremdartig, sondern bedrohen Menschen auch ganz konkret auf recht banale Art und Weise. So ist es zum Beispiel eine Eigenschaft der Farbe aus dem All, irdische Organismen auf schädliche Weise mutieren zu lassen. Ihre Fremdartigkeit alleine macht sie noch nicht gefährlich. Ähnlich verhält es sich mit Cthulhu - bei dem besteht die Gefährlichkeit ganz konkret darin, dass er die Menschheit um die Weltherrschaft bringt und das Zeitalter der Menschen beendet wenn er aufwacht. Auch dies hat zunächst wenig mit seiner Fremdartigkeit zutun. Die außerirdische Stadt bei den Bergen des Wahnsinns ist nicht hauptsächlich deswegen so unheimlich und beunruhigend, weil sie außerirdisch ist, sondern weil mörderische Shoggoten darin herumgeistern und ganz konkret das Leben der Forscher bedrohen. Die Fischmenschen in Innsmouth sind fies, weil sie sich(aus menschlicher Perspektive) fies verhalten und Durchreisende ermorden - nicht, weil sie einer anderen Spezies angehören würden. Darauf oder auf ähnliches lässt es sich bei den meisten Lovecraftgeschichten reduzieren. Der "kosmische Schrecken" ist meistens nur stilistische Tünche...
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ErikErikson

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Das stimmt, andererseits ist es die stylistische Tünche, die das Zeug vom Abenteuerroman abhebt. ich wüsste auch nicht wie man einen Roman über eine völlig fremde, aber absolut harmlose Farbe schreiben könnte, ohne den leser zu Tode zu langweilen.

Offline Waldviech

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Richtig. Irgendwo hatte Lovecraft selbst sogar mal geschrieben, dass er gezielt Urängste "ansteuert", um Schrecken zu erzeugen. (In seinem Essay über Horrorliteratur, glaube ich...kann mich aber irren.)

Zitat
andererseits ist es die stylistische Tünche, die das Zeug vom Abenteuerroman abhebt
Auch ein wahres Wort - Tünche does matter! Daher unterscheidet sich z.B. auch ein Fantasyroman massiv von einem SF-Roman, auch wenn beide die selbe Handlungsstruktur haben.
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Offline Harry

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Mir ging es gar nicht darum, wie es für die Charaktere im Lovecraft-Universum ist, sondern darum, ob das Gefühl dem Leser vermittelt wird. Ich bin großer Lovecraft-Fan (wegen der Dekadenz und Weltabgewandtheit), aber den Wahnsinn hat Lovecraft IMHO nicht gut vermittelt. Deshalb müssen da ja auch Leute mit Erklärungen zu vermitteln versuchen.

Ich weiß nicht so recht - "Ratten im Gemäuer" hat mir den Wahn gut vermittelt, obwohl zunächst (neben der Dekadenz, ja) "nur" "schnöde" akustische Halluzinationen beschrieben werden. In der Auflösung dann die "stilistische Tünche" des mörderischen Kultes, gemischt mit der Erfüllung des uralten Fluches (Klassiker: das Hilflosigkeits-Thema) - das hatte schon was, besser nachempfinden konnte ich den Wahn bislang eigentlich kaum irgendwo.

Das hat dann aber tatsächlich kaum etwas mit irgendwelchen veränderten Naturgesetzen zu tun. Die greifen dann eher bei "Die Musik des Erich Zann".
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Offline Waldviech

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...oder bei den Traumlandgeschichten, wo Lovecraft es faszinierenderweise aber kaum zu echtem Schrecken kommen lässt.
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