Vor einiger Zeit habe ich die Hypothese aufgestellt, dass klassisches Fantasy-Rollenspiel eine ähnliche Struktur wie der Heldenmythos hat:
http://tanelorn.net/index.php/topic,48855.0.htmlÄhnlich, weil ein paar wichtige Aspekte des Heldenmythos typischerweise im Rollenspiel fehlen. Ich hatte das so interpretiert, dass die Spieler unbewusst den Heldenmythos erzählen wollen, es aber real nicht schaffen.
Heute möchte ich eine alternative Hypothese vorstellen: Die Struktur, die dem klassischen Fantasy-Rollenspiel zugrunde liegt, ist die des Trickstermythos.
Das bedarf einer ausholenden Erläuterung. Nach der Theorie von Norbert Bischof (Das Kraftfeld der Mythen) bilden Mythen verschiedene entwicklungspsychologische Stadien ab. Am bekanntesten ist vielleicht der Heldenmythos. Viele von euch sind dank Joseph Campbell damit vertraut.
Kurzer Überblick über verschiedene Mythenarten:
- Schöpfungsmythen: behandeln psychologisch gesehen die Entstehung des Ich-Bewusstseins. Geschieht im Alter von 1,5-2 Jahren.
- Trennungsmythen: behandeln die ödipale Krise. Entwicklungsalter ca. 4-6.
- Trickstermythen: behandeln die Aneignung von Bewältigungsstrategien. Alter ca. 7-12.
- Heldenmythen: behandeln die Identitätsbildung und Liebesbeziehungen. Alter ab Pubertät bis etwa 25.
Den mythischen Helden hatte ich als ersten in Verdacht, weil er auf Reisen geht und Abenteuer besteht. Eine andere mythische Figur tut das jedoch ebenfalls, und das ist der Trickster.
Der Trickster ist ein Schelm. Er wandert ziellos umher, spielt anderen Leuten Streiche, schlägt sich irgendwie durchs Leben. Er hat keinen echten Plan und kein übergeordnetes Ziel. Er wandert neugierig umher und schaut, was dabei herumkommt. Bei seinen Abenteuern ist ihm jedes Mittel recht, wenn nur seine Haut gerettet werden kann oder er einen Vorteil für sich rausschlagen kann. Betrügen, lügen, töten, flüchten, der Trickster tut, was in der jeweiligen Situation weiterhilft. Moral spielt keine Rolle. Der Trickster tritt häufig in Tiergestalt auf. Berühmte Trickstergestalten: Max und Moritz, Tom und Jerry.
Für das, was an den Spieltischen geschieht, scheint mir beim Vergleich der Mythen der Trickster deutlich besser zu passen als der Heros. Eine kleine Gegenüberstellung:
- Für den Helden sind Werte wichtig. Er tut etwas, weil es richtig ist. Der Trickster tut etwas, weil es für ihn selbst nützlich ist. Dafür gehen die Werte baden.
- Der Held hat emotionale Tiefe. Er empfindet echte Angst. Er kennt Emphatie. Er kennt Liebe. Der Trickster kennt die entsprechenden Begriffe, aber er spürt ihre Bedeutung nicht. Wenn der Held eine Frau findet, dann aus Liebe. Wenn der Trickster eine Frau findet, dann nur, weil ein Mann nun mal eine Frau haben muss.
- Der Held ist ehrlich. Er hat eine Identität entwickelt, die er auch konsequent vertritt. Der Trickster ist ein Lügner von Gottes Gnaden. Er probiert verschiedene Identitäten aus und zieht sich diejenige an, die gerade dienlich ist.
- Der Held sucht etwas Magisches und hat seine Mission erfüllt, wenn er es gefunden hat. Der Trickster wendet Magie an, sie ist nicht das Ziel seiner Abenteuer, sondern ein Mittel unter vielen anderen.
- Das Abenteuer des Helden ist strukturiert und hat ein definiertes Ende. Die Abenteuer des Tricksters sind maximal vielfältig und reihen sich lose aneinander an.
Der Trickster hat ein Paradoxon, das auch für Rollenspiele sehr typisch ist. Einerseits ist der Trickster sehr mächtig. Er ist stark, schnell, beherrscht Magie. Er macht seine Gegner mit Geschick, List und Tücke platt und keine Aufgabe ist ihm zu groß. Andererseits ist der Trickster ziemlich schwach, denn im sozialen Gefüge steht er weit unten. Niemals ist er der Herrscher eines Reichs. Als Individuum ist der Trickster übermenschlich stark, als Mitglied der Gesellschaft ist er praktisch ein Niemand. Er mag bewundert werden oder sich zumindest einbilden, dass er bewundert wird. Echten sozialen Einfluss hat er nicht.
Zusammenfassend: Der Trickster hat kein endgültiges Ziel. Er hechtet von einem Abenteuer zum nächsten und kein Ende ist in Sicht. Moral spielt praktisch keine Rolle, jedes Mittel ist recht, wenn es hilft. Der Trickster entwickelt übernatürliche und magische Kräfte. Überhaupt ist er übermächtig als Individuum. Als soziales Mitglied spielt er hingegen keine Rolle im normalen Alltag. Klingt das nicht nach einer typischen Rollenspielrunde?