So, das chronologisch zweite Mittelerde-Rollenspiel nach MERS war Deciphers Lord of the Rings Roleplaying game (kurz LOTR RPG, bzw. LOTR), dass erstmals 2002 erschien, ins deutsche übersetzt wurde und mehr oder weniger in der Bugwelle der Herr der Ringe Verfilmungen entstand und umgesetzt wurde. Die Verbindung zum Film ist ziemlich allgegenwärtig im Spiel – so beinhalten die Bücher fast kein eigenes Artwork, sondern sind zwar reich bebildert, verwenden aber fast ausschließlich Bilder aus den Filmen, um die Spielwelt und ihre Bewohner darzustellen, was m.E. Ein reichlich zweischneidiges Schwert darstellt.
Trotz des Erfolgs der Filme und einer Auszeichnung als bestes Rollenspiel bei den Origins anno 2002 verkaufte sich LOTR nicht übermäßig gut; vor allem scheiterte das Spiel als der Verleger Decipher mehr oder weniger kollabierte (nach allem, was ich gelesen hatte, nachdem sich einer der Mitarbeiter sehr reichlich aus den Kassen des Verlags bediente und effektiv den Verlag so sehr bestahl, dass sie viele Lizenzen und Produkte nicht halten konnten). Deswegen ist LOTR als Spiel, gerade was die Erweiterungen angeht, etwas unvollständig, mehrere geplante Quellenbücher, die quasi druckreif waren, wurden nicht mehr publiziert (darunter das Quellenbuch zu Rückkehr des Königs) und das Spiel verschwand relativ schnell wieder.
Da für die hiesigen Beobachtungen aber nur die jeweiligen Grundbücher eine Rolle spielen (mehr Material steht mir einfach nicht zur Verfügung, und würde auch noch mehr Zeit in Anspruch nehmen), ist die unabgeschlossene Quellenbuch-Reihe allerdings eher nebensächlich, wenn auch etwas ärgerlich.
Die Regeln für LOTR basieren auf dem Decipher-hauseigenen CODA-System das so oder so ähnlich auch beim vom gleichen Verlag verlegten Star Trek Rollenspiel verwendet wurde. Man merkt an einigen Stellen eine gewisse Ähnlichkeit zu D20/D&D 3.X, insgesamt ist das System aber schon recht eigenständig.
Grundsätzlich gelten die üblichen Register, die man als Rollenspieler von einem klassisch gehaltenen Rollenspiel so erwartet: Es gibt erst einmal Eigenschaften, dazu Fertigkeiten und zusätzlich „Edges“ und „Flaws“, die ein Mischmasch aus Vorteilen, D&D-typischen Feats und dergleichen darstellen. Gewürfelt wird prinzipiell mit 2W6, zu denen Boni für Eigenschaftswerte, Fertigkeiten und weitere Boni verteilt werden; die Summe aus Fertigkeit und Würfelergebnis wird dann mit einem Mindestwurf verglichen, der abhängig davon ist, wie einfach oder schwer die erhoffte Tätigkeit ausfällt. Bei einem Sechserpasch „explodieren“ die Würfel. Alles in allem ein völlig robustes System, von dem man aber keine großen Innovationen oder weltbewegende Neuerungen erwarten sollte. Mehr so etwas nach dem Motto „keine Experimente, keine Fehler“. Darüber hinaus gibt es noch dazu einen Pool an sog. „Courage Points“, die nach dem üblichen Gummi-Punkt Prinzip arbeiten – ich weiß nicht, wie außergewöhnlich das bei einem Spiel von 2002 ist. Ich persönlich bin kein Freund von Gummi-Punkten, aber in diesem Fall sind sie zu Mindest ansatzweise innerspielweltlich erklärt (auch wenn die Erklärung etwas fadenscheinig erscheint) und soll als Anreiz dazu dienen, sich möglichst heldenhaft zu verhalten – wobei die Vorgaben, was denn nun im Kontext von Mittelerde als heldenhaft anzusehen sei, gut hervorgehoben an zentraler Position aufgeführt wird, was eine sehr brauchbare Handreichung für den Flow der Punkte darstellt. Für ein Gummipunkt-System ist das ganze sehr solide umgesetzt.
Bei der Charaktererschaffung werden wiederum recht übliche Register verwendet – effektiv separate Klassen und Spezies, plus ein Stufensystem. Die Spezies und Völker sind ganz brauchbar beschrieben und gut regeltechnisch umgesetzt, wobei es relativ viele Freiheiten bei der Ausarbeitung der Details für den Spieler gibt, gleiches gilt auch für die „Orden“ - effektiv die Klassen des Systems – die auch eher grob gehalten sind und sich primär dadurch unterscheiden, welche Fertigkeiten effizienter gesteigert werden können, und welche besondere Fähigkeiten ihnen zur Verfügung stehen.. Stufenaufstiege funktionieren recht ähnlich zu den Advances bei Savage Worlds, soll heißen relativ unaufgeregt. Charaktere können relativ frei zwischen ihren jeweiligen Orden wechseln, oder in sog. Elite Orden, effektiv Prestige-Klassen, aufsteigen, die dann weitere
Die Liste der Fertigkeiten ist umfassender als die bei MERS, aber weit davon entfernt, überbordend auszufallen.
Das Spiel bietet eine gute Bandbreite aus Kompromissen beim Rollenspiel, so können Charaktere sowohl ausgewürfelt werden oder per Point-Buy erstellt werden, Charaktere können sehr schnell über Beispiel-Kulturen oder Beispiel-Varianten der üblichen Orden abgehandelt werden, was in wenigen Minuten abgearbeitet werden kann, oder man geht ins Detail und verteilt die Punkte selbst, was etwas zeitintensiver wird. Hell, das System bietet zudem sowohl vernünftige, taktisch relevante und halbwegs gleichberechtigte Optionen für aktive oder passive Paraden.
Das System beinhaltet darüber hinaus ein System für Massenkämpfe und ein sehr grobes, einfach gehaltenes System für die Befleckung/Verführung zum Bösen, dem Mittelerde-Äquivalent zum cthuluhesken Stabilitätsverlust, wobei das System aber recht einfach gehalten ist, sowie ein System für Reputation und Bekanntheitsgrad eines Charakters.
Das Kampfsystem ist (wie auch das System an sich) relativ einfach gehalten und bietet eine überschaubare, aber brauchbare Optionen, und für die Freunde derartiger Ideen auch Regeln für Mooks oder ähnliche Statisten.
Im Gegensatz zu MERS ist das Magiesystem sogar brauchbar und passt zum Setting (Gasp!) Es gibt einige Zauber, die allesamt recht gut zum Setting passen, das System ist wieder eher unkompliziert und erfordert relativ wenig Buchhaltung (Zaubern ziehen das Äquivalent zu einem Fortitude-Save nach sich, bei deren Misslingen der Charakter etwas erschöpfter wird). Hinzu kommen eher schlicht gehaltene Regeln für magische Gegenstände und ihre Erstellung. Das relativ einfach gehaltenes Kern-Curriculum von Zaubern bietet zudem noch Sonderfälle wie magische Runen oder Zauberlieder, die aber exakt nach dem selben Schema mit leichten Variationen funktionieren.
Alles in allem ist das System sehr stromlinienförmig, stimmig und allerhöchstens könnte man dem System vorwerfen, etwas zu sehr auf der alten Wein in neuen Schläuchen Schiene zu fahren und etwas innovationsarm zu sein, macht aber dennoch vieles richtig und wenig bis nichts so richtig falsch. Alles in allem bewegt sich das CODA System gefühlt ungefähr auf der gleichen Komplexitätsstufe wie Cinematic Unisystem oder Savage Worlds, allerdings mit etwas ausfallender gestalteter Fertigkeitenliste. Das System ist aber tendenziell eher in Richtung Plausibilität als in Richtung schnelles Gameplay ausgerichtet, aber dadurch auch sehr intuitiv und gut nachvollziehbar. Ich glaube nicht, dass das System selbst zu besten Zeiten einen Hype wie Savage Worlds oder Fate hätte aufbauen oder tragen können (dazu sind die Regeln dann zu statisch und vorhersehbar), aber das Regelwerk ist absolut solide und den gesetzten Aufgaben mehr als gewachsen. Ich zu Mindest bin positiv überrascht von der Angelegenheit.
Das Spiel beinhaltet, anders als MERS, nur Angehörige der freien Völker Mittelerdes, beinhaltet also keine Option für die Erstellung von Uruk Magiern. Die verschiedenen Völker sind recht differenziert und umfassend und quellengerecht unausgewogen erstellt, wobei ausgerechnet die Darstellung von Menschen dann in weitaus gröberen Zügen daher kommt. Und an keiner Stelle wird erwähnt, was für Hosen denn Elben tragen. Was die Anschaulichkeit des Systems deutlich erhöht, ist das fast alle dieser Fähigkeiten (übrigens wie auch die meisten Edges und Flaws) mit Zitaten aus den Büchern unterfüttert wird, was die Nachvollziehbarkeit deutlich erhöht.
Die Orden, wie bereits erwähnt nicht übermäßig dominant, beinhalten sowohl die üblichen Fantasy- Rollenspiel-Standards (Kämpfer, Schurken, Zauberkundige), als auch etwas weniger abenteuerliche Formen, wie Handwerker (die tolle magische Gegenstände bauen können).
Die Beschreibung der Welt ist nicht erschöpfend, aber vorhanden und meines Erachtens ausreichend. Neben einer 15 Seiten umfassenden Beschreibung des Settings beinhaltet das Grundbuch auch zwei Kapitel, die sich mit verschiedenen Kampagnenformen und allgemeinen Stilhinweisen und Themen eines Mittelerde-Rollenspiels befassen. Auch hier taucht wenig auf, was völlig großartig und weltbewegend daherkommt, aber der Grundtenor ist völlig in Ordnung und absolut angemessen, sprich solide.
Die Aufmachung und der Stil des Systems ist wie eingangs erwähnt, etwas zwiespältig, was an den verwendeten Filmbildern liegt. Ich finde Photos in einem Fantasy-Regelwerk eher unglücklich, und die Bilder verlieren in ihrer statischen Form doch sehr gegenüber der Filmform, auch weil alles viel kleiner wirkt. Die Epik der Geschehnisse wird damit zweimal gestaucht, erstmal durch das Nadelöhr dessen, was filmisch möglich ist, und dann durch die statische Darstellung, die auch dem Film nicht wirklich gerecht wird. Ein klein wenig wirkt es so, als ob das Buch mit den Urlaubsphotos eines aufwendigen Wochenend-LARPS bebildert wurde. Dem gegenüber stehen die gut formulierten Texte (Anmerkung: Ich habe nur das englische Original der Regeln gelesen, nicht die deutsche Übersetzung. Ich kann daher nicht sagen, wie gut oder schlecht diese ist) und die häufige Einbindung der Textstellen und Zitate aus der Trilogie, die eine Menge dazu beitragen, das Ambiente und die Stimmung der Welt zu transportieren und die gediegene Tolkien-Sprache zum Stimmungsaufbau zu verwenden ist definitiv ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus ist das System relativ sauber aufgebaut, übersichtlich und beinhaltet einen brauchbaren Index und Glossar. Teilweise muss man etwas suchen, wenn man einzelne Regeln nachschlagen will, aber über den Index geht das; darüber hinaus hab ich keine Hinweise auf die berühmte Seite XX gefunden. Wenn Querverweise auftauchen (was so selten nicht ist), dann führen sie auch dahin, wo die entsprechenden Angaben zu finden sind. Das sollte zwar eigentlich selbstverständlich sein, aber wir wissen alle, dass das nicht unbedingt den allgemeinen Qualitätsstandards von Rollenspielprodukten entspricht.
So, schreiten wir zur Bewertung:
Das Regelsystem ist zwar kein Meilenstein der Rollenspielentwicklung, aber völlig solide und reichlich stromlinienförmig und elegant und, was für die Bewertung in diesem Kontext nicht weniger wichtig ist: es passt zum Hintergrund und schwurbelt nicht groß rum. Alles in allem ist das System unaufgeregt, solide und gut verständlich, was mir reicht, um zweieinhalb von drei Nazghul für die Regeln zu verteilen.
Die Darbietung des Hintergrunds ist nicht erschlagend (was bei der Masse an Informationen und der Gravitas der Tolienschen Schreibe tatsächlich eine Leistung darstellt), und ist gut auf den Hausgebrauch runter gebrochen, aber für die Hardcore-Tolkienianer gut nach oben erweiterbar. Einziges wirkliches Manko: Es gibt keine gut verwendbare Karte in dem Spiel; die übliche Mittelerde-Karte prangt zwar sowohl von der Innenseite des Einbands als auch von einer Doppelseite im Innern des Buchs, aber durch den formatgegebenen Knick in der Mitte ist die Mitte der Karte halt nicht völlig verwendbar. Das fällt für mich allerdings eher unter Nicklichkeiten. Allein bei der Beschreibung der SC-Kulturen (stillschweigend vorausgesetzt, dass Menschen da das Gros stellen) hätte etwas umfangreicher ausfallen können. Auch für die Hintergrund-Darbietung würde ich daher zweieinhalb von drei Nazghul verteilen.
Bei den Zusatzpunkten finde ich die Übersichtlichkeit zwar in Ordnung, aber alles in allem muss man doch etwas viel blättern und mehr blättern, als bei einem an sich recht elegant gehaltenen und stromlinienförmigen Regeln eigentlich notwendig wäre, was das Spiel unnötig verkompliziert. Keinen Nazghul wert.
Die Gefährten des Rings lassen sich hingegen völlig problemlos mit dem System darstellen, auch der krasse Erfahrungsunterschied wird gut wiedergegeben, während die Regeln für Courage die „Kleinen“ in der Runde nicht völlig abhängt. Bietet wiederrum einen Nazghul.
Und letztendlich die Layout-Frage... ich finde das Artwork nicht gut, und vor allem finde ich es faul, einfach Screenshots aus dem Film per Copy+Paste ins Buch zu pflanzen hat etwas ziemlich langweiliges, und nutzt meiner Meinung nach die Möglichkeiten des Stimmungsaufbaus durch gute Illustrationen nur sehr bedingt aus. Dem Gegenüber stehen allerdings sehr gut formulierte Texte und die reichaltigen Tolkien-Zitate.
Insgesamt vergebe ich also 6 von 9 möglichen Nazghul an das CODA System, was ein überdurchschnittliches Ergebnis darstellt. Meines Erachtens ein wesentlich besseres System als MERS und mit unspektakulären, aber brauchbaren und anpassungsfähigen Regeln ausgestattet.