Ich hatte mich mit sowas auch mal etwas beschäftigt, ist eine interessante Frage.
Das erste Problem an einem solchen System ist: Spiele, die Menschen simulieren, abstrahieren immer auch, bei der Realität ist man sich sich da aber nicht so hundertprozentig sicher. Sicher ist man sich lediglich, dass der "Detailgrad" eines menschlichen "Charakters" so dermaßen hoch ist, dass die Abstrahierung durch andere (und um nichts anderes geht es letztendlich!) immer zu einer Vereinfachung mit rabiaten Fehleinschätzungen führt. Oder anders gesagt, Realismus ist kein vernünftiges Ziel, sondern
Glaubwürdigkeit. Deshalb versucht der Psychologe ja auch nicht, dich auf deinen Papa-Komplex zu reduzieren, sondern behält ihn als möglichen Erklärungsversuch für tatsächliche Probleme im Hinterkopf, zumindest wenn er gut ist. Ergo schon mal: Die meisten Rollenspiele sind durch ihren Mangel an sichtbaren Zusammenhängen zwischen oberflächlicher Biografie und Charakter wesentlich näher an einem "realen", glaubwürdigen System dran als man denken würde.
Diese angesprochenen "tatsächlichen" Probleme sind das nächste Problem. Ein Rollenspiel, das den Menschen perfekt glaubwürdig (bzw. "realistisch") unterteilt, ist nichts Ansprechendes. Du willst nicht ausspielen, wie der Charakter kacken geht, oder wie er jeden Tag die gleichen Rituale ausführt, um zur Arbeit zu fahren. Und allein dadurch verschieben sich schon entscheidende Variablen in dem System, das hinter den Charakteren liegt! Du willst in jedem Spiel gewisse Sachen in den Vordergrund stellen. Deshalb gibt es ja auch kein Universal-System, das sich wirklich für
alle Rollenspiele anbietet. Das beste Beispiel (aber nicht das einzige!) ist Action. SO viele, SO viele Universalsysteme haben Subsysteme für Action-Szenen (HP, Rüstungsklasse, Verfolgungsszenen usw.), und alleine das ist völlig unrealistisch, weil der Mensch Sachen nicht anders angeht, nur weil es plötzlich spannend wird. ABER der Rollenspiel-Entwickler will, dass solche Szenen anders angegangen werden, und das ist auch in Ordnung. Im PnP kann Fokus total helfen. Deshalb hat die WoD ja auch Mechaniken für Charakterschwächen und Geistesstörungen, D&D in seinen Grundzügen aber nicht.
Mein Schluss daraus: Realismus ist kein vernünftiges Ziel, man muss lediglich einen guten Mittelweg aus Glaubwürdigkeit und Praktikabilität finden. Ein wirklich "realistisches" System
wirst du nicht bauen, und wenn doch, ist es mit ziemlicher Sicherheit sehr, sehr schlecht.
Und jetzt, wo das gesagt wurde, kann man den Blick in eine etwas praktischere Richtung werfen.
Es
gibt durchaus psychologische oder pseudo-psychologische Systeme, die man benutzen kann, wenn man sich in eine solche Richtung orientieren möchte. Sehr praktisch finde ich da etwa die antike
Temperamentenlehre, das
Enneagramm oder etwaige Vereinfachungen von
Freud. Was ein Charakter KANN, werden diese Systeme aber nur nebenbei beantworten, und das hängt mit dem zusammen, was ich oben geschrieben habe: So etwas als direkte, offensichtliche Verbindung zu betrachten ist zu "modern", die Postmoderne hat dieses Konzept eigentlich hinter sich gelassen... Lediglich
die Psyche der Charaktere zu vereinfachen, ist vielleicht nicht weniger fragwürdig, aber definitiv ein etwas praktikablerer Schritt. Haben übrigens auch schon viele Rollenspiele gemacht (White Wolf in JEDEM Spiel, etwa als "Nature", "Virtue", "Vice" oder als mit übernatürlichen "Familien" assoziierten Eigenschaften; Planescape mit seinen Philosophien, usw). Ist letztendlich nichts anderes.