Ricardos Tagebuch: Day Off
18. September
Eben hatte ich einen Anruf: Nächstes Wochenende soll es einen “Miami Hurrican Irma Relief Carnival” geben, einen Indoor-Jahrmarkt für den guten Zweck, bei dem alle Einnahmen an die Opfer des Sturms gehen. Man hat mich um eine Spende gebeten, aber vor allem darum, selbst auch anwesend zu sein und eine Lesung zu halten, mit der noch weitere Spenden eingefahren werden sollen. Natürlich habe ich zugesagt, und ich habe auch die Jungs auf die Aktion angesetzt. Totilas beteiligt sich im Namen der Familie Raith ebenfalls mit einer Spende - und es sind die Raiths, also fällt der Betrag erstens nochmal um eine ganze Kategorie höher aus als mein eigener, und zweitens hat er die Spende und den Namen Raith sehr werbewirksam in Szene gesetzt. Aber wer will es ihm verdenken - die Familie braucht alle gute PR, derer sie habhaft werden kann. Edward will für den Jahrmarkt einige Schaukämpfe seines Boxclubs organisieren, und Roberto hat vor, einen Wahrsagerstand anzubieten - allerdings für eigene Rechnung, weil er ja selbst zu den Sturmopfern gehört und Geld braucht. Nur Alex hat keine Zeit, sagte er - ich glaube, er ist damit beschäftigt, seine Village-Gemeinschaft wieder zu kitten.
Ich bin mal gespannt, was das gibt; es sind ja nur ein paar Tage Zeit, um die ganze Veranstaltung auf die Beine zu stellen.
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21. September
Der Jahrmarkt findet tatsächlich statt wie geplant; ich habe eben die letzte Bestätigung erhalten und meine Teilnahme selbst auch noch einmal bestätigt. Ein Kapitel für die Lesung habe ich auch ausgewählt. Lidia und die Mädchen kommen nachmittags auch für ein Stündchen oder zwei mit: Lidia hat sich netterweise bereiterklärt, sie dann heimzubringen und den Rest des Tages alleine auf die beiden aufzupassen.
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24. September
Tío. Ich hätte mir denken können, dass etwas passieren würde. Vielleicht nicht gerade, was genau, aber etwas. Madre mia, das war keiner meiner glorreicheren Momente. Ich bin nur froh, dass Lidia nicht mehr da war, als ich… nun. Es hilft ja nichts, mich um den heißen Brei zu winden. Als ich mich derart zum Affen gemacht habe. Alejandra auch, aber die hätte ihren albernen Ziehvater-Onkel vielleicht sogar lustig gefunden.
Aber der Reihe nach.
Alejandra und Monica hatten viel Spaß auf dem Jahrmarkt, und weil Yolanda so nett war und eine Weile mit ihnen herumzog, kamen auch Lidia und ich in den Genuss eines Spaziergangs zu zweit durch die Räumlichkeiten. Meine Lesung, als die drei gegangen waren, verlief auch ohne jegliche Probleme, und die Zuhörer schienen beim Hinausgehen auch recht großzügig die Spendenbox zu füllen. Soweit war also alles gut. Aber etwas später kam unvermittelt Yolanda auf mich zu und erzählte mir besorgt, dass Marshall sich seltsam benehmen würde. Er habe sie gar nicht erkannt und sei so angespannt. Auf mein Nachfragen ergänzte Yolanda noch, dass sie sich mit Marshall habe treffen wollen, er aber nicht gekommen sei, also habe sie ihn auf dem Gelände gesucht und gefunden, und da habe er sie dann eben nicht erkannt.
Auf den ganzen Komplex ‘Yolanda trifft einen White Court Vampir’ ging ich erst einmal gar nicht ein, sondern machte mich auf die Suche. Ich fand Marshall bei einem Stand, halb im Schatten verborgen und auf der Lauer, angespannt wie ein Raubtier.
“Marshall?” sprach ich ihn vorsichtig an, “Mr. Raith?”
Der White Court fuhr herum und starrte mich mit verengten Augen an. “Wer sind Sie und woher kennen Sie meinen Namen?”
“Yolanda macht sich Sorgen um Sie.”
Seine Miene wurde noch finsterer. “Schon wieder diese Yolanda. Die war vorhin schon bei mir. Für wen arbeiten Sie?” Dabei ging seine Hand an die Seite, als erwarte er, eine Waffe dort zu finden, die aber nicht da war.
So, wie er sich benahm, fiel mir ein, dass der Mann nicht immer als Fachanwalt für Steuerrecht tätig gewesen war. Als er vor ein paar Jahren in die Stadt kam, tat er das ja im Auftrag des Weißen Königs als dessen Cleaner, sprich Auftragskiller, bevor er den Job an den Nagel hängte und in der Stadt blieb, weil er unter Geralds, und später Totilas’, Ägide eben kein Killer sein musste, sondern seinem Hobby Steuerrecht frönen konnte. Davon war aber gerade im Moment nicht das Geringste zu spüren, sondern der Mann war vollkommen im Cleaner-Modus.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es war an der Zeit, die anderen hinzuzuziehen.
Lustigerweise versuchten die fast genau zum selben Zeitpunkt auch, mich zu erreichen, weil ihnen allen etwas ganz Ähnliches widerfahren war. Also trafen wir uns und tauschten Informationen aus.
Roberto war hier auf dem Jahrmarkt Angel Ortega über den Weg gelaufen, der von seinen Stunden in der Sonntagsschule und Jesus und Sünde erzählte und der Roberto von seiner Diktion und seinem ganzen Verhalten mehr wie ein Zehn- oder Elfjähriger vorkam als wie der erwachsene Santero, der er ist. Außerdem war Totilas Felipe Gomez begegnet, einem Rotvampir und Besitzer einer Red Court-Bar ein Stückchen abseits der Washington Avenue, den unser White Court-Kumpel kennt. Gomez hatte sich wie ein kleines Kind benommen und, als dieser fragte, Totilas gegenüber auch gesagt, er sei fünf. Als Totilas gefragt hatte, wo er auf dem Jahrmarkt schon alles gewesen sei, hatte Felipe etwas von einer Ausstellung erzählt, wo er ein ganz tolles Foto von einer Schiffschaukel gesehen habe.
Edward wiederum war auf Kirsten Lassiter getroffen, die kanadische Warden, die vorletztes Jahr Spencer Declan befreien wollte, weil irgendjemand ihr und dem Magierrat weisgemacht hatte, der White Court habe den Mann entführt. Was sie ausgerechnet in Miami machte? Edward hatte keine Ahnung. Aber sie habe sich nicht wie die kühle Warden benommen, die wir kennengelernt hatten, sondern wie ein schmollender Teenager, der ausnahmslos alles doof fand. Sie sagte auch, sie sei fünfzehn, als Edward sie danach fragte. Auch sie war in dieser Fotoausstellung gewesen und dort auf ein Foto aufmerksam geworden, das sie an ihr Sommercamp diesen Sommer erinnert habe.
Da wir alle Leuten begegnet waren, die sich nicht wie gewöhnlich verhalten hatten, die sich alle jünger benahmen, als sie waren, und von denen zwei in einer Fotoausstellung gewesen waren, suchten wir gemeinsam noch einmal Angel Ortega und fragten den etwas genauer aus. Er sagte, er sei neun, und ja, auch er hatte in dieser Ausstellung ein besonders beeindruckendes Foto gesehen, eines von einem Boot wie bei seinem Bootsausflug mit der Sonntagsschule.
Dass unsere vier Bekannten alle von irgendetwas in dieser Fotoausstellung beeinflusst worden waren, schien uns relativ gesichert. Allerdings hatten sie alle von unterschiedlichen Bildern gesprochen; es konnte also nicht ein- und dasselbe Foto der Auslöser sein.
Bevor wir uns allerdings die Ausstellung vornahmen, rief Roberto bei Ximena an. Immerhin arbeitet Angel seit einer Weile in ihrer Privatdetektei. Ja, bestätigte Robertos Cousine, Angel sei dienstlich auf dem Jahrmarkt: Die Detektei sei von einer Klientin engagiert worden, deren Mann sich seltsam benehme, seit das Paar den Relief Carnival besucht habe. Er habe sie nicht mehr erkannt und nur noch von seiner Waffensammlung gesprochen, und es habe bis zum nächsten Morgen gedauert, bis er wieder normal geworden sei. Deswegen habe Angel den Auftrag erhalten, sich die Sache einmal anzusehen.
Ob dieser Ehemann wohl auch in dieser Ausstellung gewesen war? Vermutlich. Wir hatten ohnehin keine andere Spur, also gingen wir das Zelt ausspähen. An einem Tisch davor saß ein Mann, der die Eintrittskarten verkaufte - und dabei so breit grinste wie die sprichwörtliche Katze, die den Kanarienvogel gefressen hat. Wir beobachteten das Kommen und Gehen eine ganze Weile lang - von den Besuchern, die hineingingen, kamen einige wenige mit sichtlich verändertem Verhalten heraus, aber längst nicht alle.
Ohne selbst die Ausstellung zu besuchen, würden wir nicht viel mehr herausfinden. Einer von uns musste also in den sauren Apfel beißen, aber wer? Wir überlegten eine Weile hin und her, aber am Ende kristallisierte sich heraus, dass ich der geeignetste Kandidat dafür war. Nicht, dass ich auch nur die geringste Lust darauf hatte, schon wieder einmal unter einen geistigen Einfluss zu geraten, aber ich musste zähneknirschend zustimmen, dass ich von uns vieren die harmloseste und am wenigsten krisenbehaftete Vergangenheit hatte. Bei mir war einfach die Wahrscheinlichkeit am geringsten, dass ich in einem Moment feststecken würde, in dem ich etwas Unschönes wie ein jähzorniger Boxer, ein gerade neu zum Vampir gewordener White Court oder ein junger Santero mit frisch entdeckten, unkontrollierten magischen Fähigkeiten wäre. Mierda.
Aber vielleicht würde mir ja auch gar nichts passieren - immerhin war der größte Teil der Besucher vollkommen unbeeinflusst wieder aus der Ausstellung gekommen. Und falls doch, bei dem Mann von Ximenas Klientin war die Veränderung nicht permanent gewesen, es klang also nach einem magischen Effekt, der wie so viele Magie nur bis zum nächsten Sonnenauf- oder Untergang andauern würde. Also gut, dann musste ich eben die Kröte schlucken, cólera noch eins.
Während ich die Eintrittskarte kaufte, unterhielt ich mich kurz mit dem Verkäufer über die Ausstellung. Die Fotos seien alle entweder hier in der Stadt oder von ortsansässigen Künstlern aufgenommen worden, aber nicht alle Bilder stammten von professionellen Fotografen, sondern ein durchaus beträchtlicher Teil von Laien. Bei dem Gespräch erwähnte der Mann auch, dass er einen Sohn hier in der Stadt habe. Die Bemerkung kam mir ein bisschen seltsam und kontextlos vor, aber es war ein natürlicher Teil des Smalltalks, in bezug auf diesen Sohn nachzuhaken, wo er ihn schon erwähnt hatte. Bei der Frage grinste der Verkäufer sehr verschmitzt und sagte nur: “That’s for me to know and for you to find out, Sir.”
Drinnen im Zelt sah ich mich aufmerksam um, ob mir irgendetwas darin auffiel, aber da war nichts, nur die Bilder. Natürlich sah ich mir die Fotos an, von denen Angel und die anderen Beeinflussten gesprochen hatten, aber auch an denen konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen. Aber ein Foto war da, das meine Aufmerksamkeit fesselte. Eigentlich war es gar nichts so Besonderes, eine künstlerisch ziemlich ansprechende Schwarzweiß-Aufnahme von einem Konzert oder einer Stand-Up-Comedy-Show oder etwas in der Art, aber es erinnerte mich an meine erste öffentliche Lesung. Und das wiederum erinnerte mich an den Tag, als ich die Mitteilung bekam, dass Indian Summer offiziell ein Bestseller war. Und mit einem Mal, wie ich mir das Bild so besah, war ich der zweiundzwanzigjährige Cardo, der gerade an diesem Tag die Nachricht bekommen hatte. Hier war ich, der Kubanoamerikaner aus einfachen Mittelklasse-Verhältnissen, der aus dem Nichts und mit Anfang zwanzig auf den Bestseller-Listen gelandet war, und mit einem Genre-Roman noch dazu. Das Euphorie, das Gefühl des Triumphes, war unbeschreiblich, und ich wollte einfach nur feiern.
Draußen vor dem Ausstellungszelt kam Yolanda auf mich zu. Ich hatte keine Ahnung, warum sie auch auf diesem Volksfest war, und ich wusste auch nicht, warum meine kleine Schwester auf einmal so erwachsen aussah. Älter als ich, tatsächlich. Und sie wollte wissen, ob ich 'schon etwas herausgefunden’ hätte, was auch immer sie damit meinte. Ach egal, ich wollte feiern, also schlang ich den Arm um mein Schwesterchen und wollte sie mit mir ziehen. Aber Yolanda sah mich ganz seltsam an, machte sich los und murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte, bevor sie wieder in der Menge verschwand. Sehr seltsam - freute sie sich denn nicht über meinen Erfolg?
Gleich darauf wurde ich von drei fremden Typen angesprochen, die irgendwoher meinen Namen kannten und komischerweise auch wissen wollten, ob ich ‘da drinnen etwas herausgefunden’ hätte. Ich hatte keine Ahnung, was das sollte, aber immerhin fiel mir dann ein, dass ich den einen der drei Clowns schon mal flüchtig gesehen hatte - das war der jüngere Bruder von Carlos Alveira, einem Kumpel von Enrique aus dessen Gang. Auch gut. Ich wollte immer noch meinen Triumph feiern, und wenn gerade nur diese Typen da waren, dann auch mit denen, klar doch!
Die beiden Fremden - Edward und Totilas nannten sie sich - waren aber nicht zum Partymachen aufgelegt, diese Langweiler. Sie sprachen davon, dass sie einen gewissen Marshall beruhigen gehen wollten, und schickten mich und diesen Roberto alleine los, während sie in die andere Richtung abzogen.
In der Mall, wo ich mich gerade befand, gab es auch eine Bar, wo Roberto und ich uns ein paar Drinks gönnten und ich von einer jungen Frau erkannt wurde, die gerne ein Autogramm haben wollte. Außerdem löcherte sie mich wegen Eric Albarn - und ob das mit ihm und Catherine Sebastian gut ausgehen würde? Ich war so guter Laune, dass ich sie angrinste und ihr nach einem “ja klar!” versicherte, dass noch viele gemeinsame Abenteuer auf Eric und Catherine warteten, weil ich schon jede Menge weitere Ideen hätte.
Nach einer Weile bekam Roberto eine SMS und sah, nachdem er sie gelesen hatte, zu mir herüber. “Wir müssen los”, sagte er und ließ meinen Protest gar nicht gelten. Ich war zwar verwirrt, aber das konnte meine Hochstimmung nicht dämpfen, also folgte ich ihm lachend mit den Worten, dass eine einzige Bar an einem Abend ja auch keinesfalls ausreichen würde, um diesen Triumph auszukosten, und wir uns am besten tatsächlich einen neuen passenden Ort suchen sollten.
Aber Roberto führte mich in einen Bereich der Mall, wo diese beiden anderen Typen warteten. Hier war lustigerweise überall Wasser - die Sprinkleranlage musste ausgelöst haben, wie es aussah.
“Wir dachten, der Effekt endet vielleicht unter fließendem Wasser”, sagte der jüngere von beiden, was eine Bemerkung war, die ich auch überhaupt nicht verstand, “aber es hat leider nicht funktioniert. Jetzt ist er nur noch misstrauischer.”
Ich versuchte wieder vergeblich, alle drei dazu zu bringen, ihr langweiliges was-auch-immer-es-war sein zu lassen und lieber mit mir feiern zu gehen, aber die Kerle hatten einfach keinen Sinn dafür, dass man so einen unglaublichen Erfolg einfach auskosten musste. Stattdessen zeigte dieser Edward mit einem Mal ein Stück weit von uns weg: “Da sind Marshall und Yolanda.”
Und tatsächlich. Da standen meine Schwester und ein gutaussehender Typ und unterhielten sich - es war kein Streit, aber es sah schon um einiges intensiver aus als ein ganz normales Gespräch. Als wir näher herangingen, konnten wir auch hören, was sie besprachen. Dieser Kerl - Marshall - legte seine Hand auf ‘Landas Arm und fragte in beinahe lauerndem Ton: “Du willst doch nicht weg, oder?”
‘Landas angespannte Körperhaltung sagte etwas anderes, aber aus ihrem Mund kam ein: “Äh, nein?”
Dieser Marshall grinste wölfisch, fasste Yolandas Hand und ging mit ihr weg. Ich wollte ihnen hinterher - wenn der Typ irgendwelche Frauen verführen wollte, sollte er doch, aber nicht meine Schwester, nicht mit diesem Grinsen! -, aber bevor ich auch nur ein paar Schritte getan hatte, strahlte plötzlich ein gleißend helles Licht auf, und Marshall entfuhr ein Schmerzensschrei. Während der Typ verdutzt seine offensichtlich verbrannte Hand hochhielt, hastete Yolanda schleunigst davon und war gleich darauf in der Menge verschwunden, zu schnell, als dass ich ihr hätte folgen können. Aber gleich darauf war mein Bedürfnis, ihr zu folgen, auch schon wieder verschwunden - ich hatte da noch einen Triumph zu feiern!
“Geht ihr schon mal vor”, sagte Totilas, “ich komme nach.”
Roberto, Edward und ich fanden einen Club, wo sich gut Party machen ließ, und eine Weile später stieß tatsächlich auch Totilas wieder zu uns.
“Ich habe ihn davon überzeugt, dass er das Ziel, das er sucht, nicht finden wird - und falls doch, dass er bis zum Morgen wartet, bevor er handelt; dass er so viel Zeit auch noch hat. Und morgen früh” - hier sah er die anderen bedeutungsvoll an, nachdem er kurz in meine Richtung geschielt hatte - “ist er dann hoffentlich wieder der Alte.”
Die Bemerkung verstand ich nicht, aber sie war auch völlig unwichtig. Hier war ein Club, hier waren fetzige Musik und hübsche Mädchen, und jetzt wollte ich vor allem auf die Tanzfläche.
Wir feierten bis in die frühen Morgenstunden. Als wir den Club verließen, fing es draußen schon an zu dämmern, aber ich war immer noch zu gut drauf, um nach Hause zu gehen. Meine neuen Freunde begleiteten mich an den Strand, weil ich es mir partout in den Kopf gesetzt hatte, zur Feier des Tages und zur Krönung der Nacht im Club ein frühmorgendliches Bad im Meer zu nehmen, und wo, wenn nicht am South Beach? Als wir an unserem Ziel ankamen, ging gerade die Sonne in einem glutroten Ball auf - und ebenso plötzlich, wie er gekommen war, fiel der Zauber des Fotos aus der Ausstellung wieder von mir ab.
Tío, war mir das peinlich, als ich wieder ich selbst - oder besser: wieder mein derzeitiges Ich - war. Nüchtern war ich natürlich deswegen trotzdem nicht, aber wenigstens wieder bei mir.
Zuallererst mussten wir etwas schlafen, aber am frühen Nachmittag trafen wir uns wieder, um das Vorgefallene zu besprechen.
Wir waren uns alle einig, dass der magische Einfluss eindeutig von den Bildern kam, und es war auch inzwischen sicher, dass der Kartenverkäufer eindeutig etwas damit zu tun hatte. Während ich in der Ausstellung war, hatte Roberto den Mann nämlich mit seiner Sight betrachtet und festgestellt, dass er kein Mensch war, sondern eine Trickstergestalt. “Vielleicht Loki”, sagte Edward jetzt, und der Gedanke war gar nicht so abwegig. Zumindest war es eine Arbeitshypothese, bis wir Beweise für oder gegen sie hätten.
Und jetzt, wo ich wieder klar im Kopf war, interessierte mich natürlich enorm, was da in der Mall zwischen Yolanda und Marshall passiert war, was es mit diesem gleißenden Lichtblitz auf sich hatte. Es wird sowieso Zeit, dass ich mit Yolanda rede; sie sollte endlich wissen, dass ich darüber im Bilde bin, dass sie Marshall datet.
Aber Totilas mahnte zur Zurückhaltung, als ich das erwähnte. Er glaubte, oder befürchtete zumindest, dass da in der Mall ein seltenes und nicht sehr bekanntes Phänomen aufgetreten sein könnte, sagte er - eines, von dem er mich bat, es unbedingt für mich zu behalten. Wenn nämlich jemand wahre Liebe empfindet, dann ist der- oder diejenige vor den Kräften der White Court-Vampire geschützt, und nicht nur geschützt, sondern eine solche Person zu berühren, fügt dem Weißvampir beträchtlichen körperlichen Schaden zu. Wenn Yolanda wahre Liebe empfände, dann könnte dieser Effekt zutage getreten sein, als der in seinem früheren Ich befindliche Marshall, der Yolanda in dieser Zeit natürlich noch nicht kannte, sie einfach wie jedes andere White Court-Futter behandeln wollte.
Nach meinem ungläubigen “Was, echt?” und nach Totilas’ Bestätigung entfuhr mir ein langgezogenes “Fuuuuck”. Und dann war ich erst einmal sprachlos, als mir die ganze Bedeutung des soeben Gehörten aufging. Denn wenn die beiden wirklich in wahrer Liebe zueinander hingezogen sind, dann können sie ihr niemals körperlich nachgeben, weil ein White Court-Vampir beim Sex ganz unausweichlich seine Kräfte einsetzt. Niemals. Puh. Das mag ich mir überhaupt nicht vorstellen. Mierda.
“Ja”, bekräftigte Totilas wieder, “und deswegen warte lieber noch, bis du mit deiner Schwester redest. Lass sie erst einmal mit Marshall klären, ob die beiden nach der Geschichte gestern überhaupt noch daten.”
Das klang vernünftig, also fuhr ich erst einmal in Pans Palast, um zu sehen, wie stark der Sturm sich dort ausgewirkt hatte.