Erstmal mein Eindruck zum Threadtitel im Verhältnis des OP: Irgendwie liest sich das nach "Warum wir Realismus doch brauchen" und nicht nach "Warum wir darüber reden müssen ob wir Realismus brauchen" (zumindest war das das, was der Titel erst bei mir auslöste).
Du schreibst gerade sehr kluge durchdachte Postings, macht Spaß, das zu lesen. :-)
Nach meinem ersten Eindruck drängen sich mir die Fragen auf: wie wird der Realismus im Rollenspiel definiert und vor allen Dingen, was soll damit erreicht werden?
Möchte man, dass sich ein Spiel "echt" anfühlt, dann ist die Frage nämlich nicht mehr, wie erreiche ich Realismus, sondern wie erreiche ich es dass es sich echt an fühlt?
Möchte man, dass das Spiel "wahr" ist, dann ist die Frage, wie erreiche ich, dass es sich wahr anfühlt?
Realismus kann ein Teil davon sein, was aber in meinen Augen dabei vergessen wird, dass Realismus natürlich vom eigenen Wissenstand abhängig ist. Ich kenne mich z.B. nicht besonders gut mit Technik aus, wenn mir jemand dafür eine Erkärung gibt, die sich für mich plausibel anhört, kann ich diese als "echt" akzeptieren. In anderen Bereichen in denen ich mehr Kenntnisse habe, funktioniert das nicht so leicht.
Allerdings gibt es bei mir auch eine Toleranzgrenze. Es ist eine Anstrengung, aber es gelingt mir Dinge als "wahr" zu akzeptieren, auch wenn sie das nicht sind.
Ich denke ein Faktor ist dabei die Selbstreflektion, welchen Fokus lege ich und unter welchen Umständen bin ich bereit tolerant zu sein?
Also in welchen Bereichen "brauche" ich Fragemente der Realität damit es sich für mich "echt" anfühlt? Oder damit ich es als "wahr" akzeptieren kann?
Der andere Punkt ist, ich mag es sehr gerne, wenn Wissen aus der Realität Einfluss ins Rollenspiel findet.
Dadurch lerne ich ja, und auch meine Kenntnis der Realität wird größer.
Allerdings bin ich selten bereit zu akzeptieren, wenn jemand sagt: das ist so!
Ich möchte dann auch eine Erklärung oder einen Beweis.
Und hier ist es für mich ebenfalls die Frage nach der Toleranz, inwieweit bin ich bereit für die Bereiche in denen ich Fragmente der Realität brauche auch Mühe auf mich zu nehmen, in der Form, dass ich meine Ansichten erkläre und belege und nicht nur Behauptungen aufstelle?
Ich denke in vielen Debatten, verlangen diejenigen, die Realismus fordern die Beweispficht von den Anderen anstatt sie selbst in der Form
zu übernehmen, dass sie sich auch der Realität bedienen.
Und ich denke, dass oft die Toleranzgrenze auch größer wird, wenn man keine Lust hat herauszufinden, wie es denn nun wirklich aussieht.
Jedoch komme ich hier zu einem Punkt, den ich in der Realismusdebatte vermisse.
Bestimmte Filme oder Bücher können von mir aus völlig unrealistisch sein, wenn die Motivation oder Persönlichkeiten der Charaktere glaubwürdig sind und Tiefe haben, also eine Metapher auf die Wirklichkeit sind, die "wahr" ist.
Ein Film kann komplett realistisch dargestellte Fiktion sein und ich mich an den Bildern und der Umgebung erfreuen.
Aber der Film ist für mich dann nicht mehr als Unterhaltung, wenn die Geschichte der Personen dazu mich nicht berührt und keine "Wahrheit" transportiert.
Ok. Reale Erfahrungen als Basis der Phantasie akzeptiere ich. "Realismus" würde ich das nicht nennen, man kann Erfahrungen auch fehlinterpretieren und sich durchaus ein massiv verzerrtes Weltbild aneignen, in dem dann z.B. kalte Kernfusion oder ähnlicher Schabernack möglich ist. Der eigene Erfahrungshorizont ist beschränkter, als man vielleicht annimmt, viele Dinge, die man aus Büchern oder Filmen aufgenommen hat, sind durch Genrekonventionen verzerrt - und ich meine damit nicht nur die klassischen Genres, sondern auch die Sichtweisen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Wenn unterschiedlich verzerrte Weltbilder in einem gemeinsamen Vorstellungsraum aufeinandertreffen, ist Chaos vorprogrammiert. "I reject your reality and substitute my own" kommt nicht von ungefähr.
Das sehe ich genauso.
Und vor allen Dingen, in Filmen oder Büchern werden bestimmte Dinge "bewußt" nicht realistisch dargestellt, weil sie vom Rezipenten dann nicht als glaubwürdig wahrgenommen werden.
Als Beispiel, Schussverletzungen im Film werden absolut unrealistisch dargestellt, man sieht wohl erstmal keinen Blutfleck,
um aber Glaubwürdigkeit zu erreichen bleibt man bei dieser Darstellung.
Ein weiteres Beispiel, Filme im Weltraum verzichten größtenteils darauf darzustellen, dass es dort keine Schwerkraft innerhalb von Raumschiffen gibt. Schwebende Figuren im Raumschiff verletzen unsere Wahrnehmungsgewohnheiten, wir wären permanent irritiert,
was dann zu einer Ablenkung von der Geschichte führen könnte.
In manchen Filmen oder Büchern wird deshalb eine Technologie eingeführt, die diesen Umstand erklärt, aber realistisch momentan nicht
möglich ist. Man akzeptiert es aber,
weil es theoretisch möglich ist, dass es irgendwann eine solche Technologie geben könnte.