Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann ist mit Realismus gemeint, dass das, was im Rollenspiel passiert, dem Wissen der Beteiligten angemessen ist (Wissensadäquanz). Dann ist Realismus ein relativer Begriff, der sich nach dem Wissensstand der Spieler richtet.
Das bedeutet, dass eine Runde von Physikern vermutlich sehr viel Wert legt auf mechanisch adäquate Spielinhalte (bspw. Schadensregeln von Belagerungswaffen), eine Runde von Medizinern Wert legt auf möglichst schulmedizinisch konforme Wundenregeln und es einer Gruppe von Philosophen sehr wichtig ist, dass die Charaktere in einem Mittelalter-Setting auch ein mittelalterliches Weltbild verinnerlicht haben...
Dass viele Rollenspieler hingegen bestimmte Dinge akzeptieren, die unrealistisch sind (z. B. Drachen), ist auch mehrfach genannt worden und wird auch von niemandem angezweifelt. Die Frage stellt sich dann aber doch, warum man bereit ist, diese Dinge zu „glauben“. Unter welchen Bedingungen ist man bereit, den Unglauben auszusetzen (suspension of disbelief)? Viele sagen dann: „Das liegt an den Genre-Konventionen; wer Drachen für unrealistisch und blöd hält, der spielt halt nicht in einem Fantasy-Setting.“ Ist das wirklich nur eine Geschmacksfrage?
Dennoch: Wann akzeptiere ich Genre-Konventionen als hinreichende Gründe für ein bestimmtes Phänomen und wann wird mir das zu viel und ich halte das für unrealistisch?
Ich zum Beispiel mag Fantasy und Drachen. Bei DSA können viele Drachen fliegen. Eigentlich sind sie unter mechanischen Gesichtspunkten dazu nicht in der Lage, weshalb es die offizielle Setzung gibt, dass sie auch mit Hilfe von Magie fliegen. Eine willkürliche Setzung, die ich ohne Probleme akzeptiere. Es wäre mir interessanterweise auch egal, wenn sie nicht zaubern könnten und somit keine deus-ex-machina-Erklärung gegeben würde. Ich mag einfach fliegende Drachen. Nichtsdestoweniger gehe ich natürlich davon aus, dass ein Stein auch im DSA-Universum zu Boden fällt, wenn man ihn fallen lässt. Diesen Widerspruch halte ich aber ohne Probleme aus.
Bei Dungeonslayers (klassisch) können Heiler ständig heilen, weshalb es eigentlich keine Heilkunderegeln gibt. Für mich als Soziologen stimmt dann auf einmal das gesamte Setting nicht mehr, weil ich mir dann Gedanken mache, wie anders Kriege geführt werden würden, wenn man ständig heilen könnte, wie anders die Rolle der Kirchen wäre, wenn Tod und Verderben dadurch in vielen Hinsichten zurückgedrängt werden könnten, wie anders der soziale Status von Heilern wäre etc. Vollkommen orthodox kann ich daher Dungeonslayers nicht spielen, weil ich mich in diese Welt nicht widerspruchsfrei einfühlen kann.
Was ist bei den beiden Widersprüchen bei DSA und Dungeonslayers anders? Ist der Widerspruch bei Dungeonslayers vor dem Hintergrund meines Wissens für mich größer als der bei DSA und dann auch auf einmal zu groß? Liegt es also wieder nur am Vorwissen?
Ich hatte aber bei einigen Diskutanten den Eindruck, es gehe ihnen eher um die Höhe der Auflösung der Regeln (Granularität): Regulieren die Regeln alles bis ins kleinste Detail (z. B. DSA) oder operieren sie auf einer abstrakten dramaturgischen Ebene (z. B. Fate)? Erstere legen zum Beispiel fest, dass Seitenwind einen Zuschlag von +2 beim Bogenschießen verlangt, letztere legen fest, dass der Konflikt zugunsten des NSCs ausgegangen ist und es liegt nun an den Spielern zu erzählen, warum und auf welche Art und Weise der NSC gewonnen hat.
Granularität lässt sich aber unendlich hoch drehen. Ab wann sind Regeln also realistisch? Auch die elaborierten DSA-Regeln geben keine Auskunft darüber, wie die Aufschläge aussehen, wenn man nicht mit seinem gewohnten Bogen schießt und der leichte Regen die Flugbahn beeinflusst...
Die geringe Granularität von abstrakt-dramaturgischen Regeln bedeutet aber nicht, dass sie im obigen Sinne unrealistisch sind: Wenn der NSC gewinnt, können Spielleiter oder Spieler genauso darauf verweisen, dass der Seitenwind verhindert hat, dass der NSC getroffen wurde etc.