"Rulings, not rules", das ist einer der Kernsätze der Old School Renaissance, womöglich sogar der Kernsatz. Ich für meinen Teil hänge nun einer dezidiert anderen Denkschule an, ich bin Storygamer. Der Unterschied zwischen diesen beiden und auch anderen Richtungen ist dabei weniger, was gespielt wird, sondern wie wir Spielen betrachten und darüber redern. Wir sprechen gleichsam unterschiedliche Sprachen.
Im Folgenden möchte ich mich einmal mit dem genannten Ausspruch der OSR auseinandersetzen, zuvor aber scheint es günstig einmal zu rekapitulieren, wo eigentlich die grundlegenden Unterschiede im Theoriegebäude der beiden Schulen liegen. Die Antwort liegt im mythologischen Narrativ, wie Spielrunden zu Stande kommen. Laut der Erzählung der OSR, ist da eine Spielleiterin oder ein Spielleiter, der sich ein Regelwerk wählt, es nach eigenen Wünschen modifziert, eine fiktive Spielwelt erschafft und dann Spieler einlädt, darin zu spielen.
Storygamer sehen das ein bisschen anders. Demnach kommen eine Reihe Personen zusammen, beschließen, dass sie Rollenspiel betreiben wollen, verabschieden durch Vertrag ein Regelwerk und spielen dann. Spielleiter, sofern sie vorkommen, und ihre genauen Aufgaben sind Teil des Regelwerks: Ohne gegebenes Regelwerk keine SL.
Kommen wir nun einmal zu jenem Ausspruch: "Rulings, not rules." Leicht lässt sich sagen, dass dieser Satz keinesfalls ein Entweder-oder beschreibt. Auch die von OSRlern bevorzugten Spiele, haben durchaus Regeln, wenn auch vielleicht nicht so umfassende, wie spätere Ausgaben. Die Feststellung, dass es ohne Regeln überhaupt kein Spiel geben kann, kann hier unberücksichtigt bleiben.
Der Satz also schärft keine Alternative ein, sondern dass es neben Regeln auch noch etwas anderes gebe, was womöglich noch wichtiger ist. Dieses andere ist daher kein Effekt der Regeln und von diesen unabhängig. Das ist auch vernünftig, wenn nämlich gefragt wird, ob man nicht auch spätere Spiele "old-school" (im Sinne der OSR) spielen könne.
Als Rulings aber werden üblicher Weise ad-hoc-Regelungen bezeichnet, welche die SL durchführt. Sie dienen zu einem flüssigeren Spielablauf, zur Verdeutlichung unklarer Regeln, zum Abdecken von Regellücken. Die Formulierung Ruling dabei sagt, dass dies ein einseitiger Besschluss ist. Es handelt sich also nicht um einen zustimmungspflichtigen Vorschlag. (Hiesige OSRler mögen mich bitte korrigieren oder ergänzen, wenn diese Zusammenfassung nicht treffend ist.)
Wenn das nun also so ist, müsste ich als Storygamer eigentlich sagen: Schluss, Ende, fertig. Denn SLs gibt es ja nicht vor den Regeln; d.h. SLs können nur innerhalb der Regeln agieren oder aber als gleichberechtigte Teilnehmer der Spielrunde Änderungsvorschläge zu den Regeln machen.
Alternativ müsste jede Spielerin in der Lage sein, Rulings durchzuführen. Und zwar in jedem beliebigen Spiel. Diesem Gedankengang möchte ich nun einmal nachgehen.
Mach wir mal Beispiele:
SL: In dem Raum sind 2W6 Goblins. - 12
Das wäre also eine solche Regelung. Kann ein Spieler das auch? - Ja, durchaus. "Geht mein Charakter nach links oder rechts. Ich würfel mal." Was wir hier also haben, ist eine Entscheidungshilfe. Die Anzahl der Goblins zu bestimmen, oblag der SL von vornherein. Sie hat sich gleichsam nur einen Umweg gebaut.
Spieler: Ich suche unter dem Bett.
SL: Du findest tatsächlich einen Briefumschlag.
Die Regelung in diesem Standardbeispiel besteht nun darin, dass der Spieler nicht auf "Suchen" würfeln musste. Können Spieler*innen das auch? Ja. Nehmen wir an, ein Spieler wird verführt und bekommt einen Verführungswurf mit einem guten Ergebnis gedrückt, hätte aber noch einen Rettungswurf dagegen. Der Spieler verzichtet auf den Rettungswurf. Sein Charakter war ja sowieso auf Party aus und hat den Ruf als Ladies' Man.
In beiden Beispielen verzichten also die Teilnehmer auf Ansprüche, welche sie laut Regeln hätten. Dafür kann es ganz verschiedene Gründe geben, z.B. dass der Tag kurz ist, dass es so gerade besser in die Handlung passt etc. Daraus folgt aber nicht, dass der Teilnehmer auch beim nächsten Mal auf seine Ansprüche verzichten wird. Anders herum klappt es nicht, Teilnehmende können nicht einseitig Ansprüche für sich geltend machen, die sie laut Regeln nicht haben.
Ein solcher Verzicht auf Ansprüche ist auch graduell denkbar, etwa indem man anderen Teilnehmern einen Bonus gewährt oder einen Malus in Kauf nimmt.
Wir haben also mindestens zwei Varianten, wo sog. Rulings sich auf das Handeln beliebiger Teilnehmer übertragen lassen. Warum werden die Rulings der SL aber denn als Sonderfall gesehen? Warum spricht niemand von Player Rulings?
Dies dürfte daran liegen, dass in klassischen Spielen die Regeln, welche für Spieler gelten deutlich eingeschränkter sind, als jene für SLs. Die SL kann demnach meist einfach alles. Die einzige Verteidigung dagegen, ist auf konsequentes, also vorhersehbares Handeln der SL zu setzen, also aus vergangenen Aktionen der SL ihre zukünftigen zu extrapolieren. In diesem Rahmen können sogar die beiden vorgestellten Varianten, Entscheidungshilfe und Verzicht, problematisch werden, denn sie sind geeignet diese Extrapolation zu stören. Abhilfe kann hier klare Kommunikation schaffen: "Eigentlich sagen die Regeln das, aber..."