Gerne!
Nach meiner (beschränkten) Erfahrung passiert es gerade Neulingen im Rollenspiel häufig, dass sie - angeregt durch Bücher und Filme - ihren Charakter mit einer Motivation ausstatten, mit der sie als Spieler nicht Schritt halten können. Dadurch kommt es zu einem ständigen Konflikt zwischen dem getreulichen Ausspielen des Charakters auf der einen Seite und dem pragmatischen Handeln im Sinne der Spielergruppe auf der anderen.
Zu den problematischen Typen gehören für mich Spielerfiguren, die einen Todeswunsch besitzen ("Lemminge") oder Einbahnstraßencharaktere, die in entscheidenden Situationen kein Zurück mehr kennen.
Auf dem Charakterblatt machen sich solche Eigenschaften ja noch ganz gut. Je nach Spielsystem und dessen Tödlichkeit aber kann man sehr schnell in einen Zwiespalt geraten, da man als Spieler ja gerade nicht möchte, dass der Charakter stirbt - und dessen Motivation das Spielerlebnis ja bereichern und nicht beenden sollte.
In Legend of the Five Rings habe ich das mehrmals erlebt. So hatten wir einen Krabben-Samurai, der von der Zusammensetzung seines ganzen Wesens auf Krawall gebürstet war - vor allem auf Krawall gegen den Kranich-Klan, um genau zu sein.
Er hasste den ganzen Kranich-Klan wie die Pest und machte generell keine Anstalten, diesen Hass zu verbergen.
Bis zu dem Zeitpunkt, wo ein berühmter Kakita-Schwertmeister am selben Hof war. In dessen Nähe wurde die Krabbe plötzlich überraschend kleinlaut und ließ sogar indirekte Beleidigungen seine Familie betreffend über sich ergehen - weil der Spieler wusste, dass der Kranich ihn in einem richtigen Duell zu Pizza Frutti di Mare verarbeiten würde und der Spieler das nicht wollte.
Dem Spieler war das Leben seines Charakters wichtiger als es dem Charakter selbst es war - in Legend of the Five Rings kein seltenes Problem. Eine Spielerin vergoss seinerzeit sogar Tränen, als sich andeutete, dass ihr Daimyo aus politischen Gründen ihr Seppuku befehlen könnte. Der Charakter hätte sich über die Gelegenheit gefreut, derart aufopferungsvoll dem eigenen Klan dienen zu dürfen - aber der Mensch hinter der Spielfigur konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, die liebgewonnene Samurai-ko loszulassen.
Ich selber spielte in einem Oneshot einmal einen Brutalo, der sich aus handgreiflichen Konflikten nicht zurückziehen konnte. Das lief solange gut, bis ich durch Zufall in den Hauptantagonisten - eine Art Kung-Fu-Meister - stolperte, der gerade die Szene verlassen wollte. Sein Angebot, ohne Streit einfach weiterzuziehen, wollte mein Charakter natürlich nicht annehmen - doch innerlich schloss ich bereits mit dem Leben meines Haudraufs ab. (Zum Glück beschränkte sich der weißhaarige Kampfkünstler darauf, mir kichernd alle Gliedmaßen zu brechen und mich Blut spuckend zurückzulassen - aber das ist in dem Zusammenhang eher irrelevant.)
Bis zu welchem Extrem eine Spielfigur ausgespielt werden soll, sollte nach meiner Erfahrung jede Spielergruppe untereinander aushandeln. Bei uns galt in der Regel die Maxime, dass ein Ausspielen dann keinen Sinn macht, wenn dadurch sichtlich das Abenteuer leidet oder andere Spieler in Mitleidenschaft gezogen werden.
Ein Elf in unserer Runde spielte seine Rolle immer derart konsequent aus, dass er oftmals mehrere Kampfrunden brauchte, um sich zu "sammeln" und moralisch davon zu überzeugen, ob sein Eingreifen sinnvoll oder vereinbar mit seinem zarten Gefühl sei. Sein durchaus großartiges Charakterspiel hatte ständig die Konsequenz nicht zu handeln, was aus pragmatischer Sicht auf die Dauer schwer auszuhalten war und oft von einem Stöhnen der Mitspieler begleitet wurde.
In meiner ersten Planescape-Runde hatten wir (angeregt durch das Computerspiel) übrigens auch einen unsterblichen Charakter, der allerdings eher ein Untotenfürst war und kein besonderes Interesse daran hatte, endgültige Erlösung zu finden. Er probierte zwar einige Sachen aus, aber das alles diente eher der Belustigung (Sprung in einen Vulkan, ein vom Paladin eingelassenes Bad mit Weihwasser) als dem ernsthaften Bedürfnis, sich selber abzuschaffen.
Gerade der Todeswunsch ist eine problematische Motivation für einen Charakter, weil sie dem Bestreben des Spielers genau entgegengesetzt ist. In Film und Fernsehen wird ein selbstmörderischer Held immer von seinen Freunden oder vom Willen des Drehbuchautors "gerettet"; in einem Rollenspiel ist dies aber meist nur begrenzt möglich.
In Hinblick auf CokeBacons Spielerin würde ich die Vermutung wagen, dass ihr der Charakter gerade wegen seiner Einzigartigkeit und seines Weltschmerzes, der Überdrüssigkeit, am Leben zu sein, besonders am Herzen liegt und ihr extrem sympathisch ist - und sie daher immer Probleme mit der Hauptmotivation ihrer Spielfigur haben wird.