Zuerst mal, Danke für’s Abspalten. Dieses Thema ist nämlich wirklich interessant.
Achtung, es folgt ein Roman.Eine verbreitete Antwort auf diese Frage lautet wohl: Der SL verlangt eine Probe, wann immer er will. Meiner Meinung nach kein sehr guter Ansatz, aber bei vielen im Kopf drin, zusammen mit „Der SL hat immer Recht“. Das ist eine Art universeller Sozialkontrakt, wenn man so will …
Schaut man nun einmal in ältere Regelwerke hinein, findet man meist einen Absatz etwa in der Art: „Wenn ein Charakter in der Spielewelt etwas unternimmt, dessen Erfolg nicht sicher ist, wird gewürfelt.“ Oft wird noch unterschieden zwischen trivialen und automatisch gelingenden Aktionen (auf dem Gehweg zur Ecke gehen) und Aktionen unter schwierigen Umständen (auf dem Gehweg zur Ecke gehen, während man beschossen wird.) Die Verantwortung für diese Entscheidung, was mißlingen kann und wann gewürfelt werde muß sowie die Durchführung der Probe werden in der Gegel an den SL delegiert. (Ich habe gerade auf gut Glück in Heavy Gear, Cyberpunk 2020, Pendragon und Call of Cthulhu reingeschaut.)
Das funktioniert durchaus, wenn der SL seine Arbeit ordentlich macht und mit den Spielern einig ist. Im Effekt führt das aber oft dazu, daß für die irrelevantesten Aktionen gewürfelt wird, nur weil das Ergebnis unsicher ist. Was ist irrelevant? Alles, was das Spiel nicht voranbringt oder uninteressant ist. Bei einer Verfolgungsjagd im Wald Würfe verlangen, ob ein Charakter die vorbeihuschenden Bäume taxonomisch korrekt bestimmen kann, dient nicht dem Spiel, solange nicht eine wichtige Information daran hängt.
(Es kann durchaus legitim sein, mit Würfen
colour zu schaffen, wenn alle Beteiligten das gut finden. Manche Leute würfeln halt gerne und haben Freude daran, beiläufige Fakten in der Spielewelt mittels Würfen zu bestimmen oder zu erschaffen.)
Das Problem bei Würfen ist, daß viele traditionelle Regelwerke mit Fehlschlägen nicht gut umgehen. So können auch triviale Würfe dazu führen, daß das Spiel ausgebremst wird und in einer Sackgasse landet, weil der Fehlschlag in der Fiktion einfach nicht auszubügeln ist. Im Spiel am Tisch kommt es dann auf den SL, entweder Sackgassen zu vermeiden und Fehlschläge interessant zu gestalten, oder alles wieder hinter der Kulissen hinzubiegen.
An dieser Stelle kommen wir zum Punkt, an dem ich Vincent Baker gut finde. Mit Dogs in the Vineyard bin ich nämlich zum ersten Mal auf ein Regelwerk gestoßen, daß mich zum Nachdenken über das traditionelle Prinzip gebracht hat. Es wird nämlich ausdrücklich vorgegeben, wie der SL das Spiel (dieses Spiel – nicht alle Spiele!) vorantreiben soll, und wann zu würfeln ist. Das Leitprinzip lautet „roll dice or say yes“ (S. 137; Zitat folgt eingeklappt).
Drive Play Toward Conflict
Every moment of play, roll dice or say yes.
If nothing's at stake, say yes to the players, whatever they're doing. Just plain go along with them. If they ask for information, give it to them. If they have their characters go somewhere, they're there. If they want it, it's theirs.
Sooner or later — sooner, because your town's pregnant with crisis — they'll have their characters do something that someone else won't like. Bang! Something's at stake. Launch the conflict and roll the dice.
Roll dice or say yes. Roll dice or say yes. Roll dice or say yes.
Das Regelwerk schreibt also genau vor, wofür nicht zu würfeln ist (kein Konflikt zwischen Charakteren? Say yes.), und wann gewürfelt werden muß (Konflikt? Roll dice).
Mein nächster Schritt war dann Burning Wheel, und, ausgehend davon, eine ganze Reihe weiterer nicht-traditioneller Systeme. Wichtig ist der folgende Punkt:
Rollenspiele können sich grundlegend unterscheiden. Ein wichtiger Punkt, in dem sich diese Unterschiede manifestieren, ist die Verteilung der Aufgaben, Pflichten und Rechte, hier also: Wer darf wann eine Würfelprobe verlangen? Wofür und mit welchen Konsequenzen?
Die Antwort unterscheidet sich von Spiel zu Spiel und kann nicht verallgemeinert werden. Manche Spiele gestehen dem SL das Recht zu, unter ganz spezifischen Bedingungen eine Probe zu verlangen. Manche verpflichten ihn, unter diesen Umständen eine Probe zu verlangen. Andere gestehen dem Spieler das Recht zu, eine Probe durchzuführen. Manche verlangen einen Gruppenkonsens, oder einen Interessenskonflikt zwischen SL und Spielern. (Falls es denn überhaupt diese klassische, explizite Rollenteilung gibt.) Beispiel anhand von Mouse Guard im
Mouse Guard ist ein ausgezeichnetes Beispiel, weil der Autor sich geradezu krumm macht, um alles ganz ganz genau zu erklären und festzulegen. Jede Sitzung teilt sich in zwei Teile. Im 1. Teil werden die Mäuse auf Mission geschickt: Der SL legt Hindernisse fest und bestimmt, mit welchem Skill sie zu überwinden sind. Nur der SL hat das Recht, Proben zu verlangen. Im 2. Teil dürfen die Spieler ihre eigenen Ziele verlangen: Sie geben eine spielinterne Währung aus („checks“), um Proben zu kaufen. Der SL darf hier gewissermaßen nur passiv wirken.
Außerdem geklärt ist, wie die Mission im 1. Teil aufgebaut zu sein hat (soundsoviel Hindernisse und eventuelle Komplikationen) und wie sie angelegt sein soll (die Spieler bestimmen, worum es geht, indem sie ihren Charakteren Ziele setzen – schriftlich auf dem Datenbogen – die dann der SL aufgreift, um eine Mission zu stricken, die wiederum Proben verlangt.)
Und: es ist genau geklärt, wie Proben zu handaben sind: bei Erfolg, und bei Mißerfolg. Eine Sackgasse durch Fehlschlag ist bei MG regeltechnisch nahezu unmöglich. Proben sind außerdem immer riskant: Es gibt keine trivialen Würfelwürfe in MG. Die Proben sind mehrfach in die internen Währungszyklen des Spieles eingebunden; ihre Anzahl ist von vornherein in einem gewissen Rahmen begrenzt.
Und beim Gruppenkonsens kommt noch dazu, daß der Text des Regelwerkes ja eigentlich nie identisch sein kann mit dem System, wie es dann tatsächlich am Tisch gespielt wird, also sich von Druckerschwärze auf Papier zur sozialen und verbalen Interaktion über einen Zeitraum hinweg sich zwangsläufig etwas ändern muß. Regeln müssen ausgelegt und angewendet werden, und es gibt immer Punkte, die nicht ganz klar sind.
Also. Wer hat das Recht, eine Probe zu verlangen?
Die Antwort muß immer lauten: Kommt drauf an.
a) Was steht im Regelwerk? Wann ist zu würfeln, und wer legt es fest? Unterscheidet sich von Regelwerk zu Regelwerk. Manche, vor allem ältere Regelwerke, legen das auch gar nicht groß fest.
b) Was besagt der
social contract der Gruppe? Wie wird der Text des Regelwerkes im Spiel umgesetzt, so daß er von allen Beteiligten akzeptiert wird? Unterscheidet sich von Gruppe zu Gruppe, manchmal sogar von Sitzung zu Sitzung.
Kurz und gut:
Eine einheitliche Regelung, die immer, für alle und für jedes Spiel bestimmt, wer würfeln darf, wann und warum und worauf und mit welchen Konsequenzen, kann es nicht geben.Und darum spiele ich Pendragon sehr andes als Mouse Guard und lasse im ersteren auch gerne mal zu, daß „nur für die Farbe“ gewürfelt wird. „Magst du auf Courtesy würfeln, um zu sehen, wie dein Ritter sich so benimmt bei dem hohen Anlaß?“ Mögliche Antworten: „Oh ja, gerne!“ oder „Och nö, wenn’s um nichts geht …“ Von Vorschlägen und belanglosen Würfen steht nichts im Regelwerk, das ist hier aber ein beliebter Teil unseres Systems und trägt sehr zum Spaß bei.