OK, der Reihe nach. Dieses Posting ist etwas länger, daher habe ich es mit ein paar Überschriften gegliedert.
Zunächst einmal, mein Anspruch an das Setting ist nicht "völlige" Hard SF, sondern lediglich ein "so hart wie möglich, so weich wie nötig". Nötig wofür? An dieser Stelle vielleicht erst mal ein paar Worte zu meiner erzählerischen Absicht.
1. What's f@#*ing wrong with SF these days?Dafür allerdings ist ein literaturgeschichtlicher Exkurs notwendig.
Die SF der "Golden 50s" zeichnete sich durch einen ungebremsten, naiven Optimismus aus. "Dieses Jahrhundert besiedeln wir noch den Mars, die Galaxis kommt im nächsten Jahrhundert dran", so ungefähr. Dieser Optimismus war, rückblickend betrachtet, zweifellos übertrieben und ging über die Probleme, die wir allein schon auf der Erde hatten bzw. haben, ziemlich leichtfertig hinweg. "Ja, sicher, irgendwann gibt es einen Atomkrieg, und nach dem Wiederaufbau brechen wir zu den Sternen auf", so ungefähr.
Schon damals war zwar auch eine pessimistischere, mahnende SF gegenwärtig, doch bis sie sich Gehör verschaffte, vergingen 30 Jahre. In den 80ern hatten sich Cyberpunk und Dark SF weit genug etabliert, um (zusammen mit der Tagesschau) den ungebremsten Zukunft-und-Weltraum-Optimismus zu dämpfen -- was zu jener Zeit zweifellos dringend nötig war. Die neue Generation von SF-Autoren betonte sehr die extremen Schwierigkeiten, die ein Aufbruch ins Weltall bedeuten würde, und zeichnete auch sozial mehr und mehr das Bild einer verrotteten, verkommenen Menschheit, die ihren Untergang nicht nur selbst herbeiführte, sondern auch verdiente. Das Weltall-Motiv wurde nicht länger mit einer "Aufbruch zu neuen Horizonten"-Stimmung bedient, sondern zunehmend -- wenn überhaupt -- mit einer "Flucht von der zerfallenden Erde"-Stimmung. Wer doch noch
überhaupt ein optimistisches, "schönes" Bild vom Weltall zeichnen wollte, wurde von den Genrekonventionen mehr und mehr in den Bereich "Space Fantasy" verbannt.
2. Die VisionDer Status Quo der SF lautet: "Realistisch = düster". Wenn eine Zukunftsvision überhaupt von großen Sternenreichen handelt, wird sie automatisch als Space Fantasy eingeordnet. (Disclaimer: Nein, Waldviech, ich möchte dir an dieser Stelle nicht diesen Beweggrund für deine Argumentationsweise unterstellen; deine Einstellung ist differenziert und wohlbegründet, aber ich stoße sehr häufig auf eine geradezu reflexartige Ablehung von "Kitsch im Weltraum".) Das Science Fiction-Genre bietet im Moment wahlweise eskapistische Fantasy oder düstere, hammerharte Untergangsprophezeihungen; was sie nicht mehr bietet, sind Visionen.
Und genau diese möchte ich mit meinem Setting wieder anfachen.
Visionen, die -- zumindest im Kern -- erreichbar erscheinen. Deshalb möchte ich auf offensichtliche Fantasy-Elemente wie FTL verzichten. Deshalb möchte ich das Ganze im wissenschaftlichen Sinne so "hart" machen, wie es irgend möglich ist, ohne den visionären Kern dabei zu zermalmen.
Wenn wir aber über eine Zukunft reden, die sich über mehrere Jahrtausende erstreckt, wird abseits einiger naturwissenschaftlicher Grundpfeiler so ziemlich
alles, worüber wir reden, hochspekulativ. Derzeit peile ich an, meine Haupthandlung irgendwann im 57. Jahrhundert anzusiedeln; das ist 3600 Jahre von hier entfernt, was ungefähr dem Zeitraum vom mittleren ägyptischen Reich bis heute entspricht. Kulturell und mentalitätsgeschichtlich ist da, was die Entwicklung der Menschheit betrifft, so ziemlich alles drin. Und wenn ich mir ansehe, mit welcher Beharrlichkeit z.B. mittelalterliche Bergleute 100 Jahre lang(!) daran gearbeitet haben, einen Stollen ganze 7m tiefer in den Berg zu treiben (zu besichtigen in Freiberg bei Dresden), dann fällt es für mich zumindest in den Rahmen des Vorstellbaren, daß Menschen auch unter den Einschränkungen von STL die Geduld und Beharrlichkeit aufbringen, eine so titanische Aufgabe wie den Aufbruch zu den Sternen zu stemmen; vorausgesetzt, sie haben eine Vision. Und da ist es Aufgabe der SF, sie zu liefern.
Soviel zu meinen Beweggründen. Nun zu euren Beiträgen im Einzelnen:
3. Was ist möglich und warum nicht?@Waldviech: Den Anspruch "Hard SF" habe ich, wie gesagt, lediglich so weit, daß ich dem aktuellen Stand der Wissenschaft nicht offen widersprechen möchte.
Im Rahmen dieses wissenschaftlichen Standes auf phantastisch anmutende technische Fortschritte zu setzen, ist hingegen eine Option, die ich mir offenhalte. Soll heißen: Der Aufwand für eine einzelne interstellare Kolonie ist
nach heutigem Ermessen unglaublich. Das ist der Aufwand für ein Gebäude wie den Kölner Dom nach dem Ermessen von Steinzeitmenschen auch. Und ein Gebilde wie ein moderner Flugzeugträger wäre zwar nach dem Ermessen eines Galilei prinzipiell denkbar gewesen, aber "niemals realisierbar". Ist eine interstellare Kolonie realisierbar? Oder ein ganzes Sternenreich?
Ich weiß es nicht, aber ich kann sie nicht prinzipiell ausschließen, also warum nicht eine Vision davon aufbauen? Warum diese Vision gleich wieder als "Fantasy" abtun, wenn sie zumindest keinem bekannten Naturgesetz widerspricht?
4. Wenn ich schon sage, Kolonisation ist sauschwer...Für die Auffrischungskuren rede ich, wie gesagt, von Zeitabständen im Rahmen von Jahrzehnten bis Jahrhunderten. Ich gehe davon aus, daß Ökosysteme eine gewisse Trägheit besitzen, die den Kolonisten genug Reaktionszeit läßt, um Hilfe von benachbarten Welten oder -- wenn es ganz hart auf hart kommt -- von der Erde selbst anzufordern. Die Notwendigkeit einer vollkommenen Autarkie (eine hinreichend hoch entwickelte Raumfahrt vorausgesetzt) sehe ich damit nicht länger gegeben. Daß vollkommene Autarkie
wünschenswert wäre, steht auf einem anderen Blatt; wenn ich sie aber für die Menschheit zulasse, muß ich sie auch für andere Spezies zulassen, und dann laufen wir mit Karacho ins Fermi-Paradoxon -- oder in eine Galaxis, in der die Menschheit allein ist. Letztere wäre mir zu trübsinnig, also habe ich mich auf die (von dir korrekt benannten) Schwierigkeiten bei der Schaffung/Manipulation von Ökosystemen besonnen und daraus meine "Nabelschnur"-Prämisse gehäkelt.
5. ... warum "gebe ich nicht gleich zu", daß sie unmöglich ist?Zum Punkt "Jeder Planet ist ein Unikat": Stimmt. Für mein Setting gehe ich nicht nur von einer extrem hoch entwickelten Raumfahrttechnik aus, sondern auch von einer extrem hoch entwickelten Ökologie. Der Mensch hat in diesem Setting seine heutige, hausgemachte Umweltkatastrophe gemeistert (Ein Task, der nach heutigem Ermessen schon unglaublich genug erscheint) und sich dabei ein Wissen über Ökosysteme angeeignet, das ihm die Urbarmachung von Wüstenwelten, Ozeanwelten und vollkommen fremdartigen Dschungeln leicht erscheinen läßt -- eine folgenschwere Selbstüberschätzung, die zur übereilten, unüberlegten Ausbreitung ins Weltall führt. Meine "Zauberauffrischung" von der Erde soll nicht etwa so aussehen, daß ein Schiff vorbeikommt und ein Standardpaket Zellkulturen abwirft, und alles wird gut; die Flotte, die für diese Auffrischungen zuständig ist, jongliert mit einer äußerst empfindlichen Balance -- auf jeder Welt für sich und zwischen den Welten untereinander. "Welcher Planet braucht welchen Mix von Zellkulturen, um sein bedrohlich wachsendes Ungleichgewicht zu beheben" ist eine Frage, an der ein gewaltiges Netzwerk von Experten und KIs permanent herumtüftelt.
Auch verstehe ich unter "Terraforming" in diesem Zusammenhang nicht, daß man die vorgefundenen Welten in Kopien der Erde verwandelt; vielmehr geht es mir darum, daß sich Menschen auf Welten mit bereits vorhandenen einheimischen Ökosystemen ansiedeln. Das "Terraforming" besteht darin, menschliche Nutzpflanzen und -tiere so in die bestehende Welt einzufügen, daß der Mensch eine Lebensgrundlage hat. Das wiederum zieht die Notwendigkeit von Nicht-Nützlingen nach sich wie z.B. bestimmte Insekten, die von irgendwelchen Vögeln gefressen werden, die wiederum für irgendwelche Pflanzen wichtig sind usw. usf., sprich: einen Riesenrattenschwanz von "kleinen Anpassungen" am Ökosystem bzw. an der Nahtstelle zwischen dem einheimischen und dem terranischen Ökosystem. Aus diesem Grund halte ich es auch für glaubwürdig, daß Kolonisten sich durchaus nach, sagen wir, 500 Jahren in Sicherheit wiegen könnten: "Hey,
jetzt sind wir wirklich ein Teil dieser Welt!"
@Arldwulf: Ich hoffe, vor allem in letzterem Absatz auch deine Frage beantwortet zu haben. Die eingeführten Zellkulturen "stabilisieren" unterm Strich nicht, sie "steuern gegen".
6. Back to the detailsDie "Nabelschnur" soll auch -- gerade bei den entfernteren Kolonien -- nur in Ausnahmefällen direkt bis zur Erde selbst reichen. Meine besagte Flotte wird die meiste Zeit damit verbringen, kleinere Ungleichgewichte auszugleichen, indem von Kolonie #389, #417 und #422 Zellkulturen entnommen werden, um sie nach #628 zu bringen, wo es diese speziellen Zellen einfach noch nicht gibt; wo sie aber eine bestehende Lücke im Ökosystem schließen würden. Sollte die Erde tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt verlorengehen, dann würde das Sternenreich der Menschheit auf diese Weise noch ein paar Jahrtausende weiterbestehen, indem sich die Kolonien gegenseitig versorgen; irgendwann aber würde das Ganze unweigerlich aus dem Ruder laufen, und die Tage der Menschheit wären gezählt.
(Tatsächlich fände ich so ein Endzeit-Szenario von sterbenden Kolonien ebenfalls ganz reizvoll, wenn es nicht gerade meine Absicht wäre, eine positive Utopie zu erschaffen.)
@Waldviech: Noch zu deinem abschließenden Vorschlag, das Ganze auf wenige Welten im Umfeld der Erde zu beschränken: Dieses Setting klingt ebenfalls reizvoll und durchaus nach "härterer" SF, als es mir bislang vorschwebte. Ich lasse es mir auf jeden Fall durch den Kopf gehen. Im Moment bin ich mir allerdings nicht sicher, ob es mit meiner erzählerischen Absicht von der "großen Vision" vereinbar ist; die hat im Zweifelsfall Vorrang.