Nachdem ich mich jetzt endlich durch diese unmögliche Wall of Text gekämpft habe, stelle ich mal eine provokante These in den Raum: Es gibt heute gar nicht weniger Rollenspieler als damals. Wahrscheinlich gibt es sogar mehr. Jedenfalls wenn wir mal anfangen, die richtigen Größen miteinander zu vergleichen.
Hä? Hat der Weltengeist jetzt den Rest seines Verstandes auch noch verloren? Nun, vielleicht, aber um das zu beurteilen, folgen wir ihm mal zurück in das "goldene Zeitalter". Vorhang auf...
Wir schreiben das ach so selige Jahr 1985 (und wer damals nicht dabei war, dem sei zur Einstimmung ein frühes DSA- oder D&D-Abenteuer ans Herz gelegt). In so gut wie jeder Schulklasse gibt es mindestens eine Rollenspielgruppe, aber kaum eine davon spielt die Sorte Rollenspiel , wie sie heute hier im Forum propagiert wird. Das wäre zwar theoretisch durchaus möglich, wird aber weder von Regeln noch von Kaufabenteuern wirklich unterstützt. Die überwältigende Mehrzahl der Spieler spielt daher etwas, was viel näher an einem heutigen Computerspiel ist als an einem freien Erzählspiel: Der Spielleiter sitzt hinter einem vorgefertigten Abenteuer mit äußerst beschränkten Handlungsmöglichkeiten (ein Spielstil, der später als "Hardcore-Railroading" bekannt werden sollte). Es gibt nur fünf Figurenklassen, die meisten Charaktere sind wandelnde Klischees, und im Wesentlichen geht es darum, von Raum zu Raum zu marschieren, Gegner zu plätten und Schätze einzusammeln, damit man aufsteigen und kann und somit noch besser darin, Gegner zu plätten und Schätze einzusammeln. DAS und nicht die tiefe Immersion in komplexe Charaktere wird mit der Mehrzahl der sagenhaften 150.000 verkauften DSA-Boxen gespielt.
Und dann kommen die Computerrollenspiele. Sie haben nicht nur die bessere Optik und sorgen für einen weitaus größeren Adrenalin-Kick beim Monsterplätten, sie lösen auch das Spielleiter-Problem: Endlich muss keiner mehr die Arschkarte ziehen und sich vorbereiten, damit die anderen Spaß haben können. Also geht die Mehrzahl der Rollenspieler dorthin, wo für sie eigentlich alles besser war: Zu den Computerrollenspielen. Sie spielen dort aber nicht etwa etwas anderes, sondern genau das gleiche, was sie immer gespielt haben!
Übrig bleiben die, denen es tatsächlich um das interaktive Erzählspiel ging. Sie schauen sich verwundert um und fragen: "Hä? Wo sind die denn alle? Warum gibt es nur noch so wenige Rollenspieler?" Aber das stimmt gar nicht - sie waren nie mehr gewesen. Es hatte sich nur anders angefühlt, weil sie die gleiche Box benutzt hatten wie die, die eigentlich ein ganz anderes Spiel spielten.