So, Zeit für eine Gegendarstellung. Ich breche man eine Michaelis-Lanze für „Engel“ (und entscheide mich bewusst gegen Zitatpflückerei, denn das führt immer zu hitzigen Diskussionen. Das unten ist also nur ein persönliches Statement.)
Ich habe “Engel“ lange Jahre gespielt und geleitet und das Setting ist bis heute für mich nicht wirklich verbraucht. Es ist sicherlich nicht das, woran man denkt, wenn man den Begriff "Engel" hört und wenn dir mehr eine Spielwelt vorschwebt, in der so wie in "God's Army" oder "Supernatural" Engel in unserer Moderne im Verborgenen gegen Dämonen kämpfen, solltest du lieber zu "In Nomine", "Das Siebte Siegel" oder "Demon: The Fallen" greifen. "Engel" hat außer den geflügelten Himmelsboten und dem alttestamentarischen Mythos nichts mit diesem Bild gemein. Das Setting von "Engel" ist ganz klar der "Neuen deutschen Endzeit"-Bewegung der frühen 0er Jahre zuzuordnen (nix mit 90er), wobei man ihm zugute halten muss, dass das Spiel nicht nur eines der ersten, wenn nicht sogar das erste dieser Bewegung ist (mir fiele höchstens noch „Endland“ ein), sondern das wohl ungewöhnlichste Endzeit-Setting das ich kenne, wahrscheinlich sogar das für sich gesehen inspirierteste, das mir je untergekommen ist, weil es die Klischees einer zerstörten Welt wunderbar mit judo-christlicher Mythologie verzwirbelt und ein stimmiges Gesamtbild liefert, das herrlich unkonventionell ist. Die Liebe zum Detail und die Lebendigkeit, mit der die Autoren das Europa des 27. Jahrhunderts beschreiben, ist allein schon ein Grund, sich dieses Setting näher anzuschauen.
„Engel“ muss sich auch nicht groß anstrengen, um ernst zu sein. Die ganze Hintergrundprämisse ist ein einziger Nährboden für moralische Entscheidungen und menschliche Abgründe – im Gegensatz zur WoD ergibt sich das aber organisch aus den Gegebenheiten in der Spielwelt und nicht aus einem in den Mechaniken schlecht versteckten erhobenen Zeigefinger („Würfel sofort auf Menschlichkeit du böser Böser, du...“). Insofern ist „Engel“ auch nicht erwachsener als vergleichbare Settings dieser Zeit und es gibt auch keine Stelle im Buchtext, an der das Spiel das explizit von sich behauptet – die „Attitude“ einiger „Engel“-Fans und zum Teil auch der Autoren mal außen vor und die sagt natürlich auch nichts über die Qualität des Produktes als solchem aus. Die im Übrigen ganz hervorragend ist: Für seine Zeit war „Engel“ eine echte Granate was Layout und Illustrationen anging! Und mit „Hiobs Botschaft“ gibt es sogar eine begleitende Romanserie, die man auch wirklich lesen kann, ohne zu kotzen (von den Folgeromanen, besonders jenen, die das „Ende“ vorwegnehmen rate ich eher ab... ist ein bisschen wie bei „Lost“...)
Der strittigste Punkt bei „Engel“ ist wohl die Konzentration auf den „Erzähler“ als Dreh- und Angelpunkt und „Alleinentscheider“ der Welt. Doch das alles unterscheidet sich nicht wesentlich von der „guten, alten, deutschen“ Rollenspieltradition, die schon DSA hier vorgelebt hat (nix mit 90er). In der Tat gibt es Settinggeheimnisse, die nur für den Spielleiter bestimmt sind und daher in einem extra Kapitel stehen (ach komm, Horatio, als ob das bei „7te See“ nicht auch so gewesen wäre). Im Gegensatz zur „ich weiß mehr als ihr, ätschibätsch“-Geheimniskrämerei anderer Rollenspiele, ist „Engel“ explizit darauf ausgelegt, die Spielercharaktere mit diesen Geheimnissen zu konfrontieren: „Engel“ ist ein Enthüllungsspiel. Es lebt davon, dass die SCs das alles auch rauskriegen (nicht umsonst gibt es in den Ordensbüchern unter den vorgefertigten Beispielcharakteren explizit solche, die Bescheid wissen). Und da auch bei diesem Spiel nichts so heiß gegessen wird, wie man es kocht, stellt sich vieles von dem, was mit dem „Großen Geheimnis“ zu tun hat, nicht so strikt zensiert dar, wie man meint: Die Hinweise sind, vor allem in der 1. Edition, noch ziemlich explizit und man kommt eigentlich schnell selbst drauf. Und wenn nicht bleibt es ja immer noch der Spielgruppe überlassen, wie viel sie vom Hintergrund kommuniziert haben möchte. Leute, die sich mit der Idee einen heiligen Streiter Gottes zu spielen, nicht anfreunden möchten, können mit dem Geheimnis sogar wieder angefüttert werden. Doch selbst, wenn der SL das Geheimnis für sich behält: Das Engelsetting hat eine im Rahmen perfekt ausdefinierte, aber in den Weiten Europas doch sehr offenes Setting, das reichlich Platz für eigene Ideen lässt. Und humoristische Aspekte gibt es allemal: Wer hat bei den „Nürnberger Rostbratschweinen“ nicht geschmunzelt?
Die (keineswegs bunten, sondern superschicken, bronze-schwarz-weißen) Arkanakarten sind nochmal ein Alleinstellungsmerkmal des Spiels. Ich will nicht behaupten, dass sie ein Regelsystem im herkömmlichen Sinne sind: Die Arkana sind vielmehr eine hervorragende Improvisationsspielhilfe, die mit dem Setting durch Begriffswahl und Illustrationen wunderbar verwoben ist: Mit den Dingern zu spielen oder sie einfach nur als Entscheidungshilfe zu verwenden macht einfach Spaß! Mal abgesehen davon, dass die Interpretation der Karten in der Spielpraxis dem jeweiligen Spieler obliegt: Hier haben wir, und das dürfte auch der Indie-Fan nicht bestreiten, ein starkes Player Empowerment-Element, wenn nicht sogar ein angedeutetes „Prinzip der narrativen Wahrheit“. Das mitgelieferte D20-System, das als Alternative zu den Arkanakarten vorgestellt wird, ist leider unausgegoren und erfordert das D&D 3.0 Spielerhandbuch. (Was noch lange nicht bedeutet, dass es nur gelesen und nicht gespielt worden sei – entgegen der Fehleinschätzung von Horatio: Wenn man sich die Shitstorms der Fans ob der Abschlussveröffentlichungen des Spiels und der Strategie der Autoren, einfach alles in Romane zu packen, ansieht, wird schnell klar, dass die Leute das Setting vor allem spielen wollten.)
Wie man es also dreht und wendet: Wer sich „Engel“ kauft, kauft sich wahrscheinlich kein komplettes Spiel (es sei denn ihm reichen, wie mir, die Arkanakarten vollkommen aus), sondern ein Setting. Aber eben ein Knallersetting! Ein Setting, das mit hervorragenden Büchern wie „Mater Ecclesia“ und „Traumsaat“ (letzteres ein Augenschmaus von einem Monsterbuch) ein unverwechselbares Gesamtpaket ergibt! Für mich ist „Engel“ definitiv eines der beispiellosesten, inspiriertesten Rollenspielsettings, die je deutschen Feder entsprungen sind. Sowas wie „Engel“ gibt es einfach kein zweites Mal! Und da man allein mit dem Grundregelwerk schon eine Menge machen kann (von der grimm-blutigen Militärkampagne bis zum Coming-of-Age-Drama) lege ich jedem dieses Spiel gleich doppelt ans Herz.
Zusammenfassend: Ich kann die Behauptungen von Horatio nicht oder nur zum Teil teilen und empfehle dir mit Nachdruck, dir dieses Spiel zuzulegen. Das Setting dieses Spiels ist es mehr als wert gelesen und gespielt zu werden!