@Slayn: Ja, ich kann deine Vorbehalte nachvollziehen.
Mit dem freien Markt assoziiert man normalerweise eher eigennützige Motive, Raffgier, Vorteilsnahme, aber bestimmt keine "Tugend". Und umgekehrt assoziiert man mit "Tugend" üblicherweise ein System von sozialen Normen und eine moralische Institution, die deren Einhaltung durchsetzt.
Aber ist nicht jedes System von Normen letztendlich auch nur ein Handel zwischen dem Individuum und der Gesellschaft? Besteht ein solches System nicht stets darin, daß das Individuum zwar etwas "gibt", aber dafür auch etwas "bekommt"? Der mittelalterliche Leibeigene war den strikten Regeln seines Standes unterworfen, aber er bekam dafür Schutz und Führung in Notsituationen. Der Handwerker fügte sich ins restriktive System seiner Zunft ein, hatte aber dafür materielle Sicherheit und einen gewissen Status. Der japanische Samurai war in ein unvergleichlich enges Korsett aus Pflichten und Regeln eingebunden, genoß dafür aber auch innerhalb seiner Gesellschaft höchstes Ansehen. Das Individuum mag diesen "Handel" nicht bewußt als solchen betrachtet haben; doch immer dann, wenn das Geben und Nehmen zwischen Individuum und Gesellschaft in Ungleichgewicht und Ungerechtigkeit ausarten, verliert das Individuum den Glauben an die Gesellschaft, was -- wenn es flächendeckend geschieht -- diese destabilisiert. Ob bewußt oder nicht: Der Handel "Rechte gegen Pflichten" spielt eine zentrale Rolle.
Auf einem anderen Blatt steht, wie freiwillig dieser Handel abgeschlossen wurde. Weder der Leibeigene, noch der Samurai konnten sich ihren Stand aussuchen. Und auch der Handwerksmeister wurde -- je nach Ort und Epoche -- mehr oder weniger in seine Lebensplanung hineingeboren. Unsere heutige Gesellschaft des kapitalistischen, freien Marktes setzt im Gegensatz dazu stark auf die freie Wahl des Individuums. Zwänge von früher wurden aufgeweicht oder ganz abgeschafft, und zu diesen Zwängen gehörten auch alte Normensysteme mit ihrer Bewertung von Tugenden.
Aber bedeutet das einen automatischen Gegensatz zwischen "freiem Markt" und "Tugenden"? Wenn Tugenden keinen Wert aus sich selbst heraus besäßen, wären sie dann nicht längst ausgestorben -- oder hätten sie sich dann überhaupt je entwickelt? Mut (wie oben definiert) kann sowohl zum persönlichen Vorteil des Individuums als auch zum Funktionieren und zur Stärke einer Gemeinschaft beitragen. Warum also soll zentralistisch verordneter Zwang das einzige Instrument sein, um Tugenden hervorzubringen? Warum soll nicht mit Blick auf den Nutzen Tugend in einem "marktwirtschaftlichen" Sinne belohnt werden?
Nun ist Tugend ausgesprochen abstrakt und ihr Nutzen manchmal schwer zu durchschauen. An dieser Stelle kommen die modernen Medien ins Spiel: Eine Gesellschaft mit hochgezüchteter VR könnte doch in der Lage sein, Tugend sichtbar zu machen und ihre Auswirkungen in der Gesellschaft anschaulich zu visualisieren. Der heutige Personalchef mag sich noch fragen: "Warum soll ich einen Angestellten für seinen Mut bezahlen? Was bringt sein Mut der Firma?" Eine fortgeschrittene Sozialwissenschaft könnte VR-Simulationen hervorbringen, die ihm genau diese Frage beantworten.
Wohlgemerkt: Es ist nicht etwa meine erklärte Absicht, ein solches System auszuarbeiten. Wenn sich eine zentrale, moralische Instanz als notwendig erweist, um den Wert von Tugenden zu definieren, zu messen und durchzusetzen, dann wird das Setting eine solche zentrale Instanz beinhalten. Ich möchte aber auch alternative, dezentrale und freiheitlich-individuelle Modelle nicht a priori ausschließen.