Ich will hier mal ein Funktion von Zufallstabellen (genauer: Zufalls-Begegnungstabellen) genauer beleuchten, die in meinen Augen enorm wichtig ist, im allgemeinen Diskurs aber zu kurz kommt.
(Vorsicht, das wird länger!)
Es gibt eine Rollenspiel-Spielart, die sich darauf konzentriert, zu sehen, was passiert. D.h. man spielt nicht, um gemeinsam eine spannende Geschichte zu erzählen (auch wenn die Geschichten, die passieren, häufig äußerst spannend sind), und die Welt gehorcht auch nicht der "rule of cool" (auch wenn hier und da auch coole Aktionen versucht werden und gelegentlich sogar gelingen); vielmehr spielen die Spieler ihre Charaktere, und der Spielleiter spielt die NSCs und "simuliert die Welt". Und man schaut eben, was passiert. Das kann richtig viel Spaß machen. (Echt jetzt!)
Dabei läuft man als SL zwangsläufig in ein Komplexitätsproblem: Selbst, wenn man das Geschehen auf einen übersichtlichen Handlungsort beschränkt, sprengt die Vielzahl von NSCs das Maß dessen, was eine einzige Person "spielen" kann.
Betrachten wir mal in einem einfachen Mittelalter-Setting den Wald zwischen zwei Grafschaften. Die Charaktere suchen hier irgend etwas (oder jemanden) und treiben sich hier herum. Wem könnten sie begegnen?
Es gibt eine Straße, die zwei Ortschaften verbindet. Darauf sind Händler und Bauern unterwegs. Im Wald lagert der Sohn des verstorbenen Grafen von Grafschaft A mit seinen Männern, der den Ursupator vom Thron stoßen will. Es gibt eine kleine Räuberbande. Ein heimliches Liebespäärchen. Ein paar Köhler. Grenztruppen von Grafschaft B. Häscher des Grafen von Grafschaft A. Ein Kräuterweiblein. Ein Einsiedler. Etliche Schweinehirten. Ein geheimer Druidenzirkel. Schmuggler. Mindestens.
Dazu kommen noch die ganzen Tiere und evtl. Monster.
Im Idealfall hätte der Spielleiter einen genauen Plan, wenn welcher NSC sich wo befindet, hätte Tagesabläufe nach Wochentag und/oder Wetterlage sortiert, würde Begegnungen zwischen den NSCs im Kopf ausspielen, und wenn die Spieler sagen, ihre Charaktere gehen „da lang“, dann könnte er einfach nachsehen, welchen NSCs sie dort über den Weg laufen. In der Praxis ist das erstellen und Pflegen solcher Pläne ein absurd hoher Aufwand, den man vielleicht für 1-2 wichtige NSCs betreiben will, aber sicher nicht für alle!
Und hier kommen Begegnungstabellen ins Spiel.
Anstatt jeden NSC einzeln zu modellieren, packt der SL sie alle in ein großes Modell: Er überlegt sich (entweder für den gesamten Wald, oder getrennt für bestimmte Waldgebiete), wie wahrscheinlich es ist, dass die Charaktere bestimmten NSCs oder Tieren/Monstern begegnen. Und wenn die Charaktere sich im Wald herumtreiben, dann würfelt er einfach, mit wem oder was und ob überhaupt sie eine Begegnung haben. Das reduziert die Komplexität auf einen Schlag! Zwar geht diese grobe Zufallsmodellierung zu Lasten der Genauigkeit, im Spiel ist diese Modellierung aber in der Regel ausreichend.
Also: Eine Zufallsbegegnungstabelle ist ein Weltmodell (bzw. ist Teil eines Weltmodells)!
Damit ist auch klar: Wem der Aspekt der Weltmodellierung im Rollenspiel am Arsch vorbeigeht, der kommt wahrscheinlich auch gut ohne Begegnungstabellen aus (wobei diese Tabellen auch in anderen Spielarten als Inspirationsquelle oder Strukturierungshilfe ihren Platz haben können!).
(Mit der Begegnungsstabelle Hand in Hand geht übrigens der Reaktionswurf. Natürlich kann man ihn auch durch ein komplexeres Modell (oder "Ausspielen durch den SL") ersetzen, wichtig ist nur, dass nicht alle erwürfelten Begegnungen automatisch in einen Kampf mündet.)
Aus Weltmodellierungs-Sicht taugt eine Begegnungstabelle aber nur, wenn sie die Welt auch adäquat modelliert. Grobheit führt hier nicht zum Ziel. Eine einzige Zufallstabelle für die gesamte Welt ist Blödsinn ("Eine 10%-Chance, einem Eisbären zu begegnen, egal, ob am Pol oder am Äquator?"), ebenso eine Tabelle, die gar nicht zur Welt passt ("2W6 Orks? In diesem Setting gibt es doch gar keine Orks!?"). Je feiner man granuliert, desto aufwändiger wird es aber.
Außerdem muss man die Tabellen auch dem Fortgang der Ereignisse anpassen: Wenn die Charaktere beschließen, ganz groß ins Schmuggler-Geschäft einzusteigen, dann kann es passieren, dass der Graf mehr Grenzer anheuert, und damit die Chance, einer Patrouille zu begegnen, steigt. Und wenn der Graf gar ein Kopfgeld auf die Charaktere aussetzt, dann wird der Reaktionswurf, wenn es zu einer Begegnung kommt, mit negativen Modifikatoren beaufschlagt und "Kopfgeldjäger" taucht als neuer Eintrag in der Tabelle auf. Auch Ereignisse, die im Hintergrund laufen (Stichwort "Handlungsmaschine") können Begegnungswahrscheinlichkeiten beeinflussen.
Umgekehrt kann es auch nötig werden, bestimmte Begegnungen aus der Tabelle herauszulösen. Wenn im Laufe des Spiels "Grenzer gegen Schmuggler" in den Kampagnenfokus rückt, dann ist es sinnvoll, die Grenzpatrouillen, ihre Wege, Dienstpläne und Wachzyklen genau zu modellieren. Dann wird eben genau nicht mehr gewürfelt, sondern der SL weiß, dass Trupp B unter dem spiel- und tobsüchtigen Hauptwachtmeister Moser am Dienstagnachmittag in Planquadrat E7 unterwegs ist. Dann gibt es schlicht eine 80%-Chance (oder der Trupp macht einen Wahrnehmen-Wurf gegen den Schleichen-Wurf der SC-Gruppe), dass die Charaktere entdeckt werden, wenn sie sich am Dienstagnachmittag in E7 über die Grenze schleichen wollen. Wenn sie statt dessen nebenan in D7 den Grenzübergang wagen, dann ist da halt einfach keine Patrouille. Spätestens, wenn die Charaktere diese Pläne ausspionieren wollen oder Wachen bestechen muss man es eh genau wissen.
Also: Selbst der grob vereinfachende Teil des Weltmodells, die Begegnungstabelle, bedarf eines gewissen Vorbereitungs- und Pflegeaufwand durch den SL. Dieser Aufwand ist aber gut handhabbar. Der SL muss sich einmal am Anfang überlegen, was sich alles in dem spielrelevanten Gebiet tummelt und muss Wahrscheinlichkeiten zuweisen. Das Ganze ist sehr leicht strukturierbar, in dem man mit Unter-Tabellen arbeitet.
Und er muss die Tabellen aktualisieren, was sich in 1-2 Minuten im laufenden Betrieb oder zu Beginn der Sitzung bewerkstelligen lässt.
Bleibt die Frage: Warum sollte man sich überhaupt diesen Aufwand machen? Kann der SL das nicht einfach so entscheiden? Natürlich kann er. Die Begegnungstabelle hat aber in meinen Augen einige Vorteile:
- Die Begegnungstabelle nimmt Druck vom mir als SL. Ich kann "einfach spielen", ohne mir Gedanken um Spannungsbögen oder Balancing machen zu müssen, oder darüber "was jetzt passen würde".
- Eine Begegnungstabelle gibt auch unwahrscheinlichen Begegnungen eine Chance. Ich neige als SL unwillkürlich dazu, ein Ereignis mit einer sehr kleinen Wahrscheinlichkeit einfach nicht eintreten lassen. Und wenn ich es tue, dann kommt es mir "komisch" vor. Aber wenn es gewürfelt wird, wird es eben gewürfelt.
- Zufallsbegegnungen beleben die Welt. In dem sich auch Dinge abseits des "aktuellen Plots" und Kämpfen ereignen, wirkt die Welt lebendiger und echter. Bisher parallele Handlungsstränge können sich durch zufällige Begegnungen plötzlich kreuzen.
- Zufallsbegegnungen führen zu ungeplanten Komplikationen und bereichern die Geschichte. Würfelei führt eben auch in Momenten zu Begegnungen, in denen es weder den Spielern noch mir als SL in den Kram passt. Da muss ich dann auch improvisieren und mich mit den neuen Umständen auseinandersetzen. Das macht mir Spaß und hilft, eingefahrene Routinen zu durchbrechen.
- Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr Vorteile, aber mehr fallen mir spontan nicht ein.
Alles in allem führt am Werkzeug "Begegnungstabelle" bei der Weltsimulations-Spielart kaum ein Weg vorbei. Man muss diese Spielart nicht mögen, aber hier läuft die Zufallstabelle eben zur Höchstform auf.