Autor Thema: Kontrollverlust wagen  (Gelesen 9431 mal)

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Offline Slayn

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #50 am: 25.06.2014 | 10:31 »
@Old Wise One:

Erweitere deine Betrachtung mal um Impulsgeber und Echos.
Wenn wir einander in der Dunkelheit festhalten .. dann geht die Dunkelheit dadurch nicht vorbei
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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #51 am: 25.06.2014 | 11:26 »
@Rumpel:

Was du anscheinend zu beschreiben suchst ist eine Feedbackschleife: Du erspielst den "Charakter" des Charakters und je weiter du diesen festigst, umso schwieriger wird es daraus auszubrechen. Das sind die Impulse und das Echo das ich auch schon gerade erwähnt habe.
Ein hier grundlegend wichtiges System würde dazu dienen diese Dinge nachzuhalten und erst im zweiten Schritt dafür zu sorgen in das genutzte Task Resolution System einzugreifen, etwa indem es eine Abfrage gibt ob deine Intention als Spieler (für eine Konkrete Handlung) für diesen Charakter so überhaupt in Betracht kommt.

[Nachtrag] Vielleicht ist "Kontrollverlust" auch ein zu schwammiger Ausdruck an der Stelle, dreht es sich doch entweder um "Geteilte Kontrolle" oder zumindest "Keine Autorenkontrolle" zu haben.
« Letzte Änderung: 25.06.2014 | 11:38 von Slayn »
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Offline Boba Fett

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #52 am: 25.06.2014 | 11:38 »
Ich beziehe mich auf den Eingangspost...

Korknadel, was Du als Eintauchen in die Rolle beschreibst, ist da die Komponente im Rollenspiel,
die den Method-Actor (gemäß Laws Spielertypisierung) triggert und anspricht.
Dabei gilt erstmal zu berücksichtigen, dass viele Rollenspieler ihre Prämissen woanders legen (Powergamer, Buttkicker, Tactican, etc.) also diesbezüglich gar keine hohen Ansprüche haben.
Und ich stelle mal die These auf, das die Method-Actors (sorry, englischer Plural...) eigentlich keine Probleme damit haben, spontan Reaktionen zu generieren, die relativ zufällig sind und trotzdem plausibel (der Situation und der Rolle angemessen).

Der große Unterschied zum Schauspieler, der durch sein "Script" in Dialog und Aktion gesteuert ist, ist, so denke ich: Rollenspiel ist eher Spontantheater. Auch da gibt es einen großen Rahmen, auf den man sich geeinigt hat, aber jeder ist eigentlich Herr seiner eigenen Rolle und niemand weiss, wo die Story hinwandert.
Was beim Spontantheater aber existiert, ist die Möglichkeit, den Zufall einzusetzen.
Das Publikum (oder ein "Spielleiter", oder der Zufall) entscheidet, was passiert oder wie es weitergehen soll (Handlung einer Rolle).
Aber auch da gibt es nun mal Reaktionen, der Schauspieler, die dann plötzlich ein "Was? Och nö!" verspüren.
Und auch da gibt es Versuche, dem zu trotzden und den Bogen aus der unerwünschten Fremdkontrolle zu bekommen und es doch anders zu machen.

Ich denke einfach, dass "Methord Actor" im Spontantheater gern selbst ihre Rolle verkörpern und dass mit allen erdenklichen Inhalten. Fremdkontrolle stößt daher immer auf Widerstand.
Auch beim Rollenspiel.

Und die Ankündigung von Fremdkontrolle erst recht, denn der Mensch mal sich ja immer das schlimmste Szenario aus und nicht das wahrscheinlichste...
Kopfgeldjäger? Diesen Abschaum brauchen wir hier nicht!

Offline Toppe

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #53 am: 25.06.2014 | 11:51 »
Fremdkontrolle stößt daher immer auf Widerstand.
Auch beim Rollenspiel.
Dem stimme ich zu, auch wenn es schade ist. Einige meiner besseren Rollenspielmomente resultierten aus einem Loslassen der Kontrolle. Und trotz dieser Erfahrung fällt es mir noch immer schwer den Kontrollverlust zu wagen. Teilweise bemerke ich erst später das dies wohl die interessantere Entscheidung in einer Szene gewesen wäre.
Frage mich gerade wie man dies üben oder regeltechnisch unterstützen  kann.
Sorry, you must have been boring.

Offline Slayn

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #54 am: 25.06.2014 | 11:58 »
Fremdkontrolle stößt daher immer auf Widerstand.
Auch beim Rollenspiel.

Weil Kontrolle und Kontrollverlust traditionell mit Bestrafung zu tun hat. Betrachtet man z.B. aber mal SaWo mit seinen Bennies oder Fate mit seinen Fate Points, wird man dafür _belohnt_ kurzzeitig die Kontrolle über seinen Charakter aufzugeben und "Bring it on!" zu sagen.

Wenn wir über Mainstream Rollenspiel sprechen, dann kommen wir aber auch zu dem Punkt an dem die Spaßquelle im Erfolg, im Belohnt werden und im "Schaffen durch Partizipieren" von etwas liegt, sei es die Story oder die einzelne Aufgabe.
Die Character Exploration als primäre Spaßquelle ist dabei gar nicht vorgesehen und wird auch nicht unterstützt.

Man kann also nicht pauschal sagen dass Kontrollverlust automatisch auf Widerstand trifft, das geschieht nur dann wenn es weiterhin etwas negatives bleibt.

[Nachtrag] Die beiden besten Systeme mit "Kontrollverlust" die ich kenne bedienen sich halt sehr spezifischen Quellenmaterials (Romantische Ritter und Ehrenhafte Samurai) und beziehen sich vornehmlich auf die Psyche und Geisteshaltung die ein Charakter an den Tag legen muss um erfolgreich und spaßbringend gespielt zu werden. Hier muss man selbst als Spieler arbeit darin investieren sich einen Zugang zu der Thematik zu erarbeiten und das ist es auch was belohnt wird, weil der vermeintliche "Kontrollverlust" meist damit zu tun hat dass der Charakter von sich aus das macht was man eigentlich von ihm erwünscht hat.
« Letzte Änderung: 25.06.2014 | 12:03 von Slayn »
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Offline Jens

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #55 am: 25.06.2014 | 15:10 »
Eine merkwürdige Beobachtung der Gegenseite ist übrigens auch (da ich gerne solch einen Kontrollverlust habe und mich mal "von außen" leiten lasse, das passiert ja nicht andauernd), dass es durchaus SL gibt, die mir auf keinen Fall in meinen Charakter reinpfuschen wollen und solche Situationen dann aktiv vermeiden, selbst wenn man ihnen sagt, dass sie gern mal sagen dürfen "Dein Charakter will den NSC jetzt auf jeden Fall möglichst schnell umbringen, spiel das mal aus".

Eulenspiegel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #56 am: 25.06.2014 | 19:48 »
Mir sind die realweltlichen Zustände an einem Theater hier schnurz, mir geht es lediglich um das abstrakte Verhältnis von Schauspieler und Figur. Und nach dem, was ich in meiner Ausbildung zum Musiktheater an Schauspielunterrricht und -tätigkeit erlebt habe, kann ich Dir versichern, dass meine Aussagen zum Verhältnis Schauspieler/Figur zumindest nicht weit hergeholt sind. Denn letztlich ist es egal, ob der Text oder der Regiesseur (wenn er den Text gegen den Strich bürstet) bestimmen, wo die Figur lang geht: In dem Moment, wo Du das als Schauspieler umsetzt, stehst Du mit der Figur wieder ganz alleine da. Und um diesen Moment geht es mir.
OK, wenn es dir darum geht:
Das ist doch das normalste der Welt. Ich habe bisher kaum Rollenspielrunden kennengelernt, die das anders handhaben.

Zitat
Es geht um das von vielen tollen Rollenspielern vor sich hergetragene "In die Rolle Schlüpfen". Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr gelange ich zu der These, dass dies im Grunde gar nicht möglich ist, so lange ich die "Kontrolle" über die Figur beanspruche. Denn so lange ich dies tue, bewege ich mich immer auf der Metaebene der Autoren und Regiesseure. Das Ausleben und Ausfüllen einer Rolle kann aber nur stattfinden, wenn die Figur den Ton angibt. Entweder man ist Lenker oder Darsteller. Entweder ich führe die Figur, oder sie führt mich.
Die Sache ist: Du bist die Figur!
Bzw. die Figur ist nur eine Fiktion in deinen Gedanken.

Daher gibt es, sobald du "in die Rolle geschlüpft" bist, keinen Unterschied zwischen "der Spieler lenkt" und "die Figur lenkt".
« Letzte Änderung: 25.06.2014 | 20:02 von Eulenspiegel »

Offline Anastylos

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #57 am: 25.06.2014 | 22:26 »
Man sollte vielleicht bedenken dass Kontrollverlust in beide Richtungen funktioniert. Natürlich entzieht es dem Spieler in gewisser Weise die Kontrolle über die eigene Figur. Aber es entzieht dem Spielleiter auch die Kontrolle über die NSCs. Der Händler gibt zu dass seine Waren Schrott sind und bietet Geld für das schweigen, der Prediger bemerkt das seine Religion in sich nicht schlüssig ist und zweifelt, der Androgynos krempelt sein Leben um und geht eine dauerhafte Beziehung ein.
Natürlich kann es dazu kommen das sich der böse Nekromant von den Spielern überzeugen lässt ihnen zu helfen anstatt sie zu bekämpfen. Aber das klingt doch nach einer spannenderen Geschichte als ihn zu töten. selbst wenn es eigentlich als drei monatige Kampagne geplant war.

Offline Bad Horse

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #58 am: 25.06.2014 | 22:33 »
Finde ich einen sehr guten Punkt, Anastylos.  :d

Wobei es als SL manchmal irritierend sein kann, wenn man von seinen eigenen Figuren überrumpelt wird - weil die zu viel erzählen, weil die merken, dass ihre Rachegelüste total lächerlich sind, weil die einem SC einfach nicht widerstehen können... das macht die NSCs glaubwürdiger und lebendiger, birgt aber natürlich auch die Gefahr, dass der NSC die SCs überschattet. Oder dass er sich ihnen anschließen will (weil es einfach keinen Sinn macht, dass er zu Hause sitzen bleibt), und dann hast du als SL die ganze Zeit diesen Kerl an der Backe, den du da gar nicht brauchen kannst.  ;)
Zitat von: William Butler Yeats, The Second Coming
The best lack all conviction, while the worst are full of passionate intensity.

Korrekter Imperativ bei starken Verben: Lies! Nimm! Gib! Tritt! Stirb!

Ein Pao ist eine nachbarschaftsgroße Arztdose, die explodiert, wenn man darauf tanzt. Und: Hast du einen Kraftsnack rückwärts geraucht?

Luxferre

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #59 am: 26.06.2014 | 07:46 »
Wenn Weiterentwicklung (SC oder NSC) schon als Kontrollverlust angesehen wird, dann werden hier aber mittlerweile ganz andere Fässer aufgemacht  :o

Ich finde es wichtig, dass den Spielern klar ist, dass sie nicht immer zu 100% Herr ihres Charakters sind. Leider gibt das viele Gruppenverträge nicht her. Es fängt an bei Kontrollzaubern der NSC (ich erinnere mich sehr gut an meinen fuchsteufelswilden Spieler, der für die Dauer eine Kampfes keine Kontrolle mehjr hatte. Meine Güte, was hat der geschimpft und war seriously pissed) und geht weiter bei sozialen Fertigkeiten der NSC gegen die SC.

Ich finde ehrliche SC viel cooler am Tisch, als kontrollwütige Spieler, die ihren Schuh durchziehen müssen. Und das ist nicht schwarz-weiß-Malerei, sondern vielmehr bunt-schwarz ;) "MEIN Charakter" macht ein plausibles Kampagnenspiel mitunter (kein Muss, ein Kann) genauso kaputt, wie "MEINE Kampagne" des Meisters. Der Besitzanspruch ist schon etwas merkwürdig. Und wenn ich recht darüber nachdenke, dann finde ich viele Facetten dieses Themas merkwürdig. Schließlich spiele ich meine Charaktere oder leite ich meine Kampagne nicht ausschließlich für "die Anderen". Vielmehr sollte sich das alles schön die Waage halten, Ideen werden in einen Topf geschmissen und es wird gemeinsam gespielt. Wobei in "gemeinsam" auch "MEIN" vorkommt ... seltsam  >;D

Luxferre

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #60 am: 26.06.2014 | 08:22 »
D.h. es geht hier nicht um den SL, der dem SC etwas aufzwingt, um seine Kampagne in eine bestimmte Richtung zu bringen, sondern um die Bereitschaft beider, Entscheidungen in die Hände von Zufallsprozessen zu legen.

Um hierauf noch zu antworten:

Ich sehe die Fraktion der Kontrollfreaks (SL oder Spieler) als Leute, die das gar nicht oder nur sehr selten trennen. Das vergaß ich ganz offensichtlich zu schreiben. Ich habe die Erfahrung zumindest derart gemacht und finde es schade. Zeigt aber eine Tendenz bei einem gewissen Typus Rollenspieler (und natürlich auch in anderen Hobbies, keine Frage) auf. Ich überspitze es mal: im RL Versager versucht seine Defizite im Medium Rollenspiel zu kompensieren über Macht, Kontrolle, Starrköpfigkeit und Arschlochverhalten.
Auf mich angewandt bedeutet das, dass ich mir generell nichts sagen lasse  >;D Aber davon ab: auf mich gemünzt bedeutet das natürlich ein Ventil und Ablenkung aus dem RL. Ich möchte gern mehr sein, als ich bin und kann das über das schöne Medium ausleben. Ich bin kreativ, freigeistig und vor Allem abgelenkt, kann oberflächlich entspannen und habe eine tolle Zeit mit meinen Jungs. Bei einigen Leuten trägt das aber reifere Früchte. Die überkompensieren, bewusst oder unbewusst. Die werden richtiggehend hartnäckig und ätzend, wenn sie in ihre Rollen schlüpfen. Die werden alles daran setzen, die Kontrolle jederzeit über ihren Charakter zu behalten. Und das nicht nur entgegen plausibler innerweltlicher Entwicklungen, sondern auch über gezieltes Maulen bei unpassenden Würfelergebnissen. Ein netter SL oder Mitspieler wird dann des lieben Frieden willen sicherlich klein beigeben. Dreistigkeit setzt sich durch.
Glaubst Du nicht? ;)
Ist aber so. Mehrfach geschehen/erlebt, beobachtet und erzählt bekommen.


EDIT:
ich tue mich übrigens selbst nicht immer leicht mit der Abgabe von Kontrolle. Übermächtige Arschloch-NSC zB hasse ich wie die Pest und überreagiere auf diese schon bei erster Sichtung auf Entfernung. Dennoch vertrete ich hier die Fraktion der Kontrollabgeber. In einer gesunden Gruppe führt das zu coolen Aktionen  :d
« Letzte Änderung: 26.06.2014 | 08:30 von Luxferre »

Offline korknadel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #61 am: 26.06.2014 | 08:58 »
Character exploration auf diese Weise ist schön und gut, wenn es dem gemeinsamen Spiel förderlich ist. Dadurch muss trotz des "leichten Kontrollverlustes" (ich würde hier eher von was anderem sprechen, siehe unten) eine gewisse Kontrolle doch darüber übrig bleiben, die Rolle entsprechend der Tisch- und Settingkonventionen in verträglichen Bahnen zu halten. Der Spieler muss in meinen Augen also immer in gewisser Weise als "enabler" der gespielten Rolle im Hintergrund bleiben, um im Notfall die Reißleine zu ziehen, wenn das Ganze mit ihm durchgeht.

Das, wovon du sprichst, korknadel, hat meiner Meinung nach weniger mit dem Verlust der Kontrolle zu tun, als mit progressivem Charakterdesign im Spiel. Wer seine Figur und Rolle (der er sich als Spieler in gewisser Weise unterzuordnen hat, wenn es ihm um eine gewisse Immersion geht, da gebe ich dir recht) nicht in Stein meißelt und mit jedem gespielten Moment neu ausformt bzw. weiterentwickelt, hat in der Regel kein Problem damit, Reaktionen nach Würfen auszurichten und so neue Ebenen des gespielten Charakters zu erfahren.

Ich meine das nicht als nit-picking im Bezug auf den Begriff. Ein Verlust der Kontrolle wäre in diesem Augenblick für mich sogar fatal. Es ist absolut notwendig, dass der Spieler zu jeder Zeit willens und in der Lage ist, die Ausgestaltung seines Charakters persönlich vorzunehmen. Es geht in erster Linie nur darum, wie offen er die Gesetze dieser Gestaltung ansetzt. In gewisser Weise kann man hier zwar von einem "Loslassen" von festgefahrenen Annahmen über die Motive und Persönlichkeit der Figur sprechen, um diesen neuen Entwicklungen überhaupt offen begegnen zu können, die Kontrolle darüber, was letztlich mit der Figur geschieht, darf allerdings nicht verloren gehen. Sich den Bedingungen der gewählten Rolle zu unterwerfen, die man gleichzeitig mitgestaltet, kann eben nicht bedeuten, die Verantwortung über ihre Integration in das gemeinsame Spiel abzugeben. Gerade dann landen wir bei "ich kann da nichts für, so ist mein Charakter eben".

Natürlich bin ich mir bewusst, dass das von dir verwendete Wort in gewisser Weise schon zutrifft, weil "Offenheit" auch irgendwie "nicht verbissen sein" heißt und das widerum irgendwas mit Kontrolle zu tun hat. Ich möchte das lediglich so eindeutig und hart getrennt wissen, weil ein Missverständnis in diesem Zusammenhang meiner Meinnug nach sowohl im Rollenspiel, als auch in der von dir eingebrachten theatralen und auch in der literarischen Kunst, immer wieder zu Katastrophen führt. Es gibt auch Autoren, die sich ihrer Verantwortung für die Aufrechterhaltung ihrer Geschichte und Ausgestaltung von Spannungsbogen und Plot entziehen, indem sie behaupten, ihre Figuren hätten sich einfach selbstständig gemacht. Oder Schauspieler, die Rollen entstellen, weil sie davon überzeugt sind, dass die Rolle "das so will". Oder eben das lästige "mein Charakter ist eben so" im Rollenspiel. Das ist im Grunde  "character exploration gone rogue" um im Kontext dieses Threads zu sprechen. Damit geht oftmals eine ganze Mentalität her, die der Dominanz der Figur viel zu viel und der Verpflichtung des Autors, diese zu kontrollieren, viel zu wenig Gewicht beimisst. Und die glaubt, die Kontrolle über das verlieren zu müssen, was sie entwickeln und darstellen, um diesem fiktiven "Etwas" genug Raum zur Entfaltung geben zu müssen.

Gerade in einem "coporative effort", wie im Rollenspiel, gibt es in meinen Augen nichts Wichtigeres, als diesen Fehlschluss, bzw. diese Illusion zu vermeiden. In dem Augenblick, wo man die Gestaltungskompetenz- und verantwortung an das fiktive Konstrukt abgibt, das überhaupt erst durch die persönliche Interpretation ihrer Prämissen, Grenzen und Motivationen existiert, tritt man im Grunde genommen mit Anlauf gegen die gemeinsam errichteten Säulen des Fundaments, das die gemeinsame Vorstellungswelt, den Gruppenvertrag und all das schöne Zeug, was das "wir spielen zusammen make belief" überhaupt ermöglicht. Da erfahrungsgemäß die wenigsten Spieler sich dieser Verantwortung immer zu 100% bewusst sind, ist Chaos und Stunk dann eigentlich vorprogrammiert.

Ein ganz toller Post, vielen Dank!

Ich möchte dazu zwei Dinge noch einmal klären, denn eigentlich sind wir weitgehend einer Meinung:

Den Begriff "Kontrollverlust" habe ich nicht benutzt, weil es mir darum ginge, dass man alle Zügel fahren lässt, sondern weil von Spielern, die sich nicht gerne in ihren Char pfuschen lassen, oft davon gesprochen wird, dass sie die Kontrolle behalten wollen, zumindest sinngemäß. Es geht mir also nur darum, in wie weit man an diesem einen Punkt im Verhältnis von Figur und Spieler, der von vielen als Kontrollverlust empfunden wird, sich auf eben diesen einzulassen bereit ist. Was ich damit sicher nicht meine, ist, dass sich alle Spieler irgendwelchen Eingebungen öffnen und wild assoziierend zu einem blinden Rollenroulette übergehen.

Und was Du bezüglich dem Settingrahmen als Kontrollmarken ansprichst: In meiner Vorstellung deckt sich das 100%-ig mit der Formulierung, dass die Figur den Spieler lenkt. Denn - jetzt mal ganz platonisch ideal gesprochen - wer kennt sich in der Spielwelt besser aus als die Figur, die in ihr lebt? Die Figur kann den Settingrahmen aus eigener Kraft gar nicht sprengen, das kann nur geschehen, wenn ein Spieler die Kontrolle - jetzt in meinem Bild gesprochen - nicht an sie abgibt, sondern zu sehr selbst lenkt. Das banalste und alltäglichste Beispiel wäre hier das (von Sashael schön illustrierte) Problem von Spieler- und Charwissen. Kontrolliert die Figur den Spieler, kann der Spieler sein Spielerwissen nicht anbringen. Die Spielwelt bleibt in sich konsistent.

Übrigens ist mein Schauspiel-Beispiel in diesem Sinne auch platonisch ideal gemeint, deshalb auch der Hinweis, dass mir der Theaterbetrieb an dieser Stelle egal ist. Julia folgt der Logik der Spielwelt des Stücks und bringt sich am Ende um (oweh, Spoiler!). Das hat auch die Schauspielerin zu schlucken und zu spielen, die vielleicht aufgrund der Logik ihrer eigenen Befindlichkeiten lieber hätte, dass Julia zur taffen Amazone wird, die einen Rachefeldzug startet. Für diese Überlegung spielt es keine Rolle, wie das nun in welcher Inszenierung tatsächlich umgesetzt ist und welche Schauspielerin die Julia jetzt besonders gut oder schlecht spielt. Folgt die Schauspielerin der Figur, bleibt die Logik des Stücks erhalten. Folgt der Spieler seiner Figur, bleibt - idealiter - auch die Konsistenz der Spielwelt erhalten.

Ich habe während meiner aktiven Zeit ja doch so einige Rollen auf der Bühne verkörpert, und es gab nur sehr selten Momente, wo die Logik der Figur, die ich gespielt habe, meiner eigenen entsprach. Und genau DAS ist es, was am Schauspiel Spaß macht.

So das Gedankenkonstrukt. Aber so wie ich es sehe, verträgt sich dieses Konstrukt eigentlich mit allem, was der Wise Old Man gesagt hat.

@Boba:
Selbstverständlich können wir hier nur von und für Spieler sprechen, die voll immersiv sind oder sein wollen. Was mich zu der Überlegung ja angestachelt hat, ist ja gerade der von mir empfundene Widerspruch, dass Leute, die gern das Vollabtauchen abfeiern, andrerseits meinen, das ginge nur, wenn sie die Figur totalitär lenken. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr ist diese absolute Kontrolle über die (sozialen) Reaktionen der Figur nichts anderes als ein darstellerisches Pöppelschubsen. (Wobei die Übergänge natürlich immer fließend sind und fließend sein müssen).

Man sollte vielleicht bedenken dass Kontrollverlust in beide Richtungen funktioniert. Natürlich entzieht es dem Spieler in gewisser Weise die Kontrolle über die eigene Figur. Aber es entzieht dem Spielleiter auch die Kontrolle über die NSCs. Der Händler gibt zu dass seine Waren Schrott sind und bietet Geld für das schweigen, der Prediger bemerkt das seine Religion in sich nicht schlüssig ist und zweifelt, der Androgynos krempelt sein Leben um und geht eine dauerhafte Beziehung ein.
Natürlich kann es dazu kommen das sich der böse Nekromant von den Spielern überzeugen lässt ihnen zu helfen anstatt sie zu bekämpfen. Aber das klingt doch nach einer spannenderen Geschichte als ihn zu töten. selbst wenn es eigentlich als drei monatige Kampagne geplant war.

Ja, finde ich auch einen guten Hinweis in dieser Betrachtung. Allerdings habe ich schon den Eindruck, dass viele Spieler solche Reaktionen von NSCs durchaus erwarten. Schließlich hat man ja so geile Charisma-Werte auf dem Charbogen, und dazu legt man ja auch noch eine noch viel geilere Show am Spieltisch hin. Da müssen die NSCs sich schon von den PCs beeindrucken lassen gefälligst. Andrerseits lässt dann aber der Spieler, dessen Char einen negativen Klugheitswert hat, nicht zu, dass seiner Figur ein x für ein u vorgemacht wird. So jedenfalls ist mein Eindruck aus vielen Diskussionen zum Thema "soziale Konflikte im Rollenspiel."
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Offline Kriegsklinge

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #62 am: 26.06.2014 | 09:29 »
Ist es arg kluggeschissen, wenn ich einfach sage, dass natürlich auch die Entscheidung einer Spielerin, sich unter Regeln zu begeben, die Ergebnisse über das Verhalten ihres Charakters produzieren, die sie nicht völlig in der Hand hat -- auch soziale oder unausgesprochene Regeln --, auf irgendeiner Ebene eine souveräne Entscheidung betreffs des Charakters darstellt? Dass weiterhin gilt (oder gelten sollte) "Wer A sagt, muss nicht B sagen", dass also die Reaktion auf zB ein Würfelergebnis zum sozialen Verhalten von der Spielerin noch eigenverantwortlich auszugestalten wäre, also als Anregung dient, selbst etwas aus der Situation zu machen, letztendlich also die Souveränität über den Charakter nur bestärkt? Dass, letztens, Probleme wahrscheinlich auftauchen, wenn die Regeln nicht explizit gemacht werden können und/oder der Spielraum zu den Ergebnissen, die mithilfe dieser Regeln produziert werden, nicht (mehr) gegeben ist, man also nach einem A dann doch plötzlich B sagen muss? Und dass, allerletztens, die Ausgangsfrage betreffend, der Kontrollverlust dann tatsächlich ein Mittel zu stärkerem Charaktererleben ist, wenn er explizit und  gewollt passiert und in einen Kontext rücküberführt, in dem die Spielerin eben doch entscheiden kann? Also Anregungen liefert, den Charakter von einer anderen, unverhofften Seite zu betrachten und in sozialen Situationen zu erproben? Aufzubrechen, dass man den eigenen Charakter eben nur aus sich heraus erschaffen kann, dass also die "produktive Illusion" von der Rumpel spricht, aufgebaut und wirksam gemacht wird? Kam schon dran, bestimtm, oder? Hatte nämlich keine Lust, den Thread zu lesen.

Einfach gesagt: Ich bin ein total Fan von Kontrollverlust, wenn man auch sagen kann, jetzt reicht´s aber mal, ich bestimme, das läuft jetzt so und so, aber interessant, was da gerade mit meinem Char passiert ist, wär ich alleine nicht drauf gekommen.

Achamanian

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #63 am: 26.06.2014 | 09:53 »
Ist es arg kluggeschissen, wenn ich einfach sage

Ja, aber macht nix, Hauptsache klug  ;)

Eulenspiegel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #64 am: 26.06.2014 | 22:13 »
Denn - jetzt mal ganz platonisch ideal gesprochen - wer kennt sich in der Spielwelt besser aus als die Figur, die in ihr lebt?
Der Autor, der die Spielwelt geschrieben hat.

Btzw. wenn die Spielwelt von der Rollenspielgruppe gemeinsam erschaffen wurde, dann die Rollenspielgruppe.

Hinzu kommt noch, dass die Figur fiktiv ist. Rein fiktiv mag sie ein genialer Detektiv sein, der jeden Mord in Sekunden aufklärt und sofort weiß, wer der Mörder ist. Wenn der SC "Sherlock Holmes" jetzt aber vom Spieler Hans gespielt wird, dann muss irgendjemand entscheiden, wen Sherlock Holmes jetzt anklagt. Entweder der SL entscheidet das oder Hans entscheidet das oder man lässt es auswürfeln. Aber der SC Sherlock Holmes kann nicht entscheiden, wen er anklagt, da er nur fiktiv ist.

Zitat
Julia folgt der Logik der Spielwelt des Stücks und bringt sich am Ende um (oweh, Spoiler!).
Behauptet jetzt der Autor! Ich fand den Selbtsmord von Julia damals unglaubwürdig. So what? Wer soll jetzt recht haben? Shakespeare, weil er ein großartiger Autor ist? Oder Eulenspiegel, weil er derjenige ist, der den SC verkörpert?

Aber die Figur kann nicht entscheiden, was glaubwürdiger ist! Die Figur kann nicht entscheiden, ob nun Shakespeare oder Eulenspiegel Recht hat! (Der SL oder die Mitspieler können das. - Die Figur kann das nicht!)

Offline Slayn

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #65 am: 26.06.2014 | 22:17 »
Hm.... Ich behaupte jetzt mal: Die Figur an sich existiert nicht, ist aber Schnittstelle zu einem gemeinsamen Vorstellungsraum und die als Point of View, was ihr, passiv, eine gewisse "Macht" zugesteht.
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Eulenspiegel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #66 am: 26.06.2014 | 23:20 »
Richtig, sie ist eine Schnittstelle zum gemeinsamen Vorstellungsraum. Im klassischen RPG wird der SC als Schnittstelle des Spielers verwendet, um den Vorstellungsraum zu manipulieren. In Indie-RPGs können auch Mitspieler diese Schnittstelle verwenden oder ein Zufallsgenerator (Würfel) generiert (über den SC) Input für den gemeinsamen Vorstellungsraum.

Offline korknadel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #67 am: 27.06.2014 | 08:47 »
Der Autor, der die Spielwelt geschrieben hat.

Btzw. wenn die Spielwelt von der Rollenspielgruppe gemeinsam erschaffen wurde, dann die Rollenspielgruppe.

Hinzu kommt noch, dass die Figur fiktiv ist. Rein fiktiv mag sie ein genialer Detektiv sein, der jeden Mord in Sekunden aufklärt und sofort weiß, wer der Mörder ist. Wenn der SC "Sherlock Holmes" jetzt aber vom Spieler Hans gespielt wird, dann muss irgendjemand entscheiden, wen Sherlock Holmes jetzt anklagt. Entweder der SL entscheidet das oder Hans entscheidet das oder man lässt es auswürfeln. Aber der SC Sherlock Holmes kann nicht entscheiden, wen er anklagt, da er nur fiktiv ist.

Noch gründlicher kann man an dem, was mit dieser metaphorischen Frage gemeint war - ich erinnere: "jetzt mal ganz platonisch ideal gesprochen" - eigentlich nicht vorbeireden. 

"Keine Puppe, sondern nur
Eine schöne Kunstfigur
Nach der Schnur und nach der Uhr.
Und ein Mäuschen von Natur."

Behauptet jetzt der Autor! Ich fand den Selbtsmord von Julia damals unglaubwürdig.

Was? Damals schon? Du bist wahrlich mit einem langen Leben gesegnet!  ~;D

scnr.
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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #68 am: 27.06.2014 | 12:12 »
Ein ganz toller Post, vielen Dank!

Der Dank geht gleich zurück für das Kompliment.

Zitat
Den Begriff "Kontrollverlust" habe ich nicht benutzt, weil es mir darum ginge, dass man alle Zügel fahren lässt, sondern weil von Spielern, die sich nicht gerne in ihren Char pfuschen lassen, oft davon gesprochen wird, dass sie die Kontrolle behalten wollen, zumindest sinngemäß. Es geht mir also nur darum, in wie weit man an diesem einen Punkt im Verhältnis von Figur und Spieler, der von vielen als Kontrollverlust empfunden wird, sich auf eben diesen einzulassen bereit ist. Was ich damit sicher nicht meine, ist, dass sich alle Spieler irgendwelchen Eingebungen öffnen und wild assoziierend zu einem blinden Rollenroulette übergehen.

Jetzt verstehe ich auch deinen Vermerk "bei anderen Proben geben sie die Kontrolle ja auch ab". Das stimmt, ja. Im Grunde genommen ist dass dann eine misconception darüber, wie weit die Kontrolle ausgeübt wird. Die künstliche Grenze, die dann gezogen wird, ist dann wohl eher durch Gewohnheiten und traditionell erlernten Mechaniken des Spiels verankert.

Zitat
Und was Du bezüglich dem Settingrahmen als Kontrollmarken ansprichst: In meiner Vorstellung deckt sich das 100%-ig mit der Formulierung, dass die Figur den Spieler lenkt. Denn - jetzt mal ganz platonisch ideal gesprochen - wer kennt sich in der Spielwelt besser aus als die Figur, die in ihr lebt? Die Figur kann den Settingrahmen aus eigener Kraft gar nicht sprengen, das kann nur geschehen, wenn ein Spieler die Kontrolle - jetzt in meinem Bild gesprochen - nicht an sie abgibt, sondern zu sehr selbst lenkt. Das banalste und alltäglichste Beispiel wäre hier das (von Sashael schön illustrierte) Problem von Spieler- und Charwissen. Kontrolliert die Figur den Spieler, kann der Spieler sein Spielerwissen nicht anbringen. Die Spielwelt bleibt in sich konsistent.

Richtig. Das Problem bei der ganzen Sache ist die sprachliche Ungenauigkeit, aus der man aber auch nicht wirklich rauskommt. 'Wenn du sagst "Die Figur lenkt den Spieler", meinst du, dass die interpretierten und angenommenen Attribute und Eigenschaften der Rolle die Reaktionen bestimmen (unter Rücksichtnahme darauf, dass diese Interpretationen widerum vom Spieler oder von sozialer Konvention stammen) und dass das Dogmat der Rolle letztlich über dem Bauchgefühl des Spielers stehen sollte, wenn er mehr Immersion bzw. der Rolle/Figur gerecht werden und mehr Plausibilität / Kontinuität erzeugen will (siehe dein Julia-Beispiel weiter unten). Dadurch muss er natürlich von seinem eigenen Befinden zurücktreten und die "Kontrolle" an die Figur abgeben, das heißt sich den Konventionen seiner selbst gewählten Rolle unterwerfen.

Wenn ein anderer "Die Figur lenkt den Spieler" sagt, meint er womöglich, dass der Spieler erstmal von seiner Einflussmöglichkeit beraubt ist und auch die Veranwortung darüber, was geschieht, nicht mehr hat, weil die Rolle sich selbstständig gemacht hat. Dabei ist das eigentlich, mal vom Prinzip her dass die Rolle nicht wirklich existiert (und wenn sie keine autonome Persönlichkeit ist, die vom Spieler Besitz ergreift) her gesehen, überhaupt nicht möglich. Trotzdem wird es gerne als Legitimation benutzt. Allerdings ist die Angst davor, diese Einflussmöglichkeit bei Kontrollverlust gleich mit zu verlieren vermutlich auch der Grund für die Meisten, diesen zu vermeiden und allergisch darauf zu reagieren, wenn es im Spiel ohne ihre Zustimmung geschieht (was allerdings auch legitim ist, in meinen Augen).



@Old Wise One:

Erweitere deine Betrachtung mal um Impulsgeber und Echos.

Da weiß ich gerade nicht weiter. Sprichst du von spezifischen Termini aus der Erzähl- bzw. Rollenspieltheorie?

Wenn ich interpretiere denke ich bei "Impulsgeber" in dem Zusammenhang daran, dass der Spieler und eventuelle, soziale Konventionen, denen er ausgesetzt ist, ensprechend als "Impulsgeber" der Motive und Handlungen seiner Figur funktioniert. Aber was sind Echos?
« Letzte Änderung: 27.06.2014 | 12:14 von Old Wise One »

Offline korknadel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #69 am: 27.06.2014 | 13:28 »
Du hast das, was ich meine, in meinen Augen noch mal ganz toll formuliert.

Für die sprachliche Ungenauigkeit gibt es viele Gründe. Zum einen, wie schon erwähnt, dass ich mich auf gewisse Argumente, die innerhalb des Diskurses fallen, beziehe und die Begriffe aufnehme. Zum anderen, weil mir manchmal das Geschick fehlt, mit Worten ins Schwarze zu treffen. Und nicht zuletzt, weil ich das Ganze eigentlich nicht so sehr auf die rollenspieltheoretische Sprachebene zerren wollte, sondern mit Bildern hantieren wollte, die womöglich etwas "emotionaler", agitatorischer daherkommen. "Lass dich von deiner Figur lenken" klingt so hübsch griffig. Dazu kommt, dass ich mir selber gerade versuche, einen Tritt zu geben, um mich mit der von mir in letzter Zeit geschmähten Immersion wieder etwas zu versöhnen. ;D
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Old Wise One

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #70 am: 27.06.2014 | 14:02 »
Oh. Bitte nicht falsch verstehen. Ich meinte nicht, dass du im Speziellen sprachlich ungenau bist, sondern dass das einfach in der Natur des Themas liegt. Die Begriffe sind mehrdeutig (was ja prinzipiell gut ist), daher wahrscheinlich auch die Irritiation einiger Spieler.

Allerdings kann ich deine Motivation gut verstehen und dein Anstoß hier hat mir auch nochmal Gelegenheit gegeben, darüber im Bezug auf mich selbst und meine Charaktere nachzudenken.  :d

Eulenspiegel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #71 am: 27.06.2014 | 17:57 »
@ korknadel
Ich vermute mittlerweile, du meinst mit dem "Kontrollverlust" unterschiedliche Stances:

So gibt es zum Beispiel den Actor Stance, der hauptsächlich von immersiven Spielern verwendet wird und bei dem Meta-Wissen abgelehnt wird. Als Wissen soll nur das genutzt werden, was auch der SC weiß.

Und dann gibt es noch sehr häufig den Author Stance, der hauptsächlich von Spielern verwendet wird, die daran interessiert sind, eine interessante Story mitzugestalten. Hier wird das Meta-Wissen aktiv genutzt, um den Plot in eine interessante Richtung zu lenken.

bzgl. "bei anderen Proben geben sie die Kontrolle ja auch ab"
Das sind häufig Kontrollverluste, die man auch aus dem RL kennt:
- Ich möchte so weit springen, kann das aber nicht.
- Ich möchte, dass die Schmerzen aufhören, sie hören aber nicht auf.
- Ich möchte die Person an der Bar rumkriegen, aber sie interessiert sich nicht für mich.

All diese Kontrollverluste kennen wir aus dem RL. Daher haben wir auch keine Probleme mit der Immersion, wenn unserem SC der gleiche Kontrollverlust widerfährt und wir diesen dann im RPG ebenfalls erfahren.

Aber Kontrollverluste der Marke: "Ich möchte nicht freiwillig mitkommen, aber ich komme trotzdem freiwillig mit." sind im RL unbekannt. Daher schaden sie der Immersion, wenn man sie im RPG erlebt.

Offline Sashael

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #72 am: 27.06.2014 | 19:22 »
Aber Kontrollverluste der Marke: "Ich möchte nicht freiwillig mitkommen, aber ich komme trotzdem freiwillig mit." sind im RL unbekannt. Daher schaden sie der Immersion, wenn man sie im RPG erlebt.
Falsch.
Es gibt diese Kontrollverluste auch im RL. Wir bemerken sie allerdings nicht oder viel zu spät. Sonst würden wir die Dinge ja nicht tun, zu denen uns andere Menschen gebracht haben. Das Problem liegt eher darin, dass der Spieler von seiner Figur distanziert ist, eben nicht immersiv in ihr drin steckt, und daher ein Auge für die Gesamtsituation hat. Dadurch kann er eine Blockadehaltung den Wünschen und Vorschlägen anderen gegenüber einnehmen, die so im RL oft gar nicht existieren kann. Unterstützt wird das durch die Würfelwürfe, die die eigentlich subtilen Manipulationen eines geschickten Redners offen legen und durch die Würfelergebnisse transparent machen. Wer merkt, dass er verarscht wird, schickt den Manipulator in die Wüste. Der Haken dabei ist, dass man es eben nicht bemerkt. Und das sollen die Würfel eigentlich simulieren und soziale Angriffe spielbar machen. Bei vielen Spielern erreichen sie aber das genaue Gegenteil: Die Täuschung wird erkannt und abgelehnt.
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Offline Turning Wheel

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Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #73 am: 27.06.2014 | 19:33 »
Saschael, du machst da einen gedanklichen Fehler.
Auch wenn man hinterher merkt, dass es ein Fehler war, ist man trotzdem freiwillig mitgegangen. Und deshalb ist das richtig, was Euli sagt.
Man beurteilt den Kontrollverlust ja auch erst mal nicht retrospektiv sondern in dem Moment, in dem er passiert.

Generell halte ich den Unterschied, den Euli da aufzeigt, für ziemlich interessant. Allerdings glaube ich, dass alle Gründe für die Akzeptanz gegenüber dem Kontrollverlust relativ unbedeutend sind im Vergleich zu dem einen: Führt der Kontrollverlust letztendlich zu einem besseren Spielerlebnis.
Wenn ja, gut, wenn nicht, dann nicht. Und das ist definitiv Geschmacksache.
« Letzte Änderung: 27.06.2014 | 19:39 von Turning Wheel »

Eulenspiegel

  • Gast
Re: Kontrollverlust wagen
« Antwort #74 am: 27.06.2014 | 19:51 »
Es gibt diese Kontrollverluste auch im RL. Wir bemerken sie allerdings nicht oder viel zu spät. Sonst würden wir die Dinge ja nicht tun, zu denen uns andere Menschen gebracht haben.
Wie meinst du das? Ich tue Dinge, zu denen andere Leute mich bringen, weil sie mich überzeugt haben. Ich habe nicht die Kontrolle verloren, ich habe mich überzeugen lassen.

Zitat
Das Problem liegt eher darin, dass der Spieler von seiner Figur distanziert ist, eben nicht immersiv in ihr drin steckt, und daher ein Auge für die Gesamtsituation hat.
Richtig. Das hat aber nichts mit Kontrollverlust sondern mit fehlender Immersion zu tun.

Zitat
Der Haken dabei ist, dass man es eben nicht bemerkt. Und das sollen die Würfel eigentlich simulieren und soziale Angriffe spielbar machen.
1) Richtig. Aber damit hast du einen Kontrollverlust, der so im RL nicht vorkommt. Ich als Spieler weiß, dass der Typ gelogen hat, kann aber nichts dagegen unternehmen.

So ein Kontrollverlust tritt im RL nicht auf. Sobald ich im RL weiß, dass der andere lügt, kann ich mich dementsprechend wappnen.

2) Ich als Spieler bemerke es. Wenn du jetzt von mir verlangst, dass mein SC das nicht bemerkt, baust du damit einen Clash zwischen mir und meinem SC auf, der mich aus der Immersion reißt.
Die Immersion beruht ja darauf, dass die Gedanken des Spielers und des SCs eins sind. Du verlangst jetzt aber, dass der SC andere Gedanken hat als ich. Und das schadet der Immersion.

@ Turning Wheel
Richtig, die wichtigste Frage lautet: Führt der Kontrollverlust zu einem besseren Spielerlebnis oder nicht?

Es hilft aber imho durchaus, wenn man theoretisch vorhersagen kann, bei welchen Spielertypen der Kontrollverlust wahrscheinlich zu einem besseren Spielerlebnis führt und bei welchen nicht. Und es befriedigt imho zusätzlich die Neugier, wenn man beantworten kann, warum das so ist.