Kürzlich wurde
ein alter Thread wieder aufgewärmt, worauf es gleich auch
eine dazu passende Umfrage gab. Hier hat mich schon gewundert, wie sehr einige Rollenspieler ihren Char für sich beanspruchen. Meiner!
Dann kam
der xte Thread zum Thema soziale Konflikte. Hier wurde ein verwandtes Thema angeschnitten, nämlich das der Kontrolle über den Char. "Kampfregeln" im "sozialen" Bereich treffen bei etlichen Spielern auf Widerstand, weil sie nicht wollen, dass ein Würfelwurf darüber entscheidet, wie ihre Figur reagiert. Wohlgemerkt im sozialen Bereich, in vielen anderen Bereichen lassen sich die meisten Spieler von den Würfeln bereitwillig diktieren, was ihrer Figur widerfährt.
Es geht um Kontrolle. Lasse ich zu, dass meiner Figur vom Händler Schund aufgeschwatzt wird, dass sie den Lehren eines Predigers verfällt, dass sie dem Charme eines verführerischen Androgynos erliegt, dass sie dem Hauptverdächtigen im Mordfall glaubt, wenn dieser seine Unschuld beteuert - und das alles nur wegen irgendwelcher Würfelwürfe? Gebe ich damit nicht Kontrolle über die Figur aus der Hand?
Im Grunde ist mir diese Frage gar nicht so wichtig. Aber zunächst mal noch ein anderer Punkt, der beim Thema Kontrollverlust immer wieder angesprochen wird: Das Argument gegen Kontrollverlust ist ja, dass die Spieler (oder Chars?) dann nichts mehr machen könnten, zumindest nicht das, was sie wollen. Bei diesem Argument halte ich den nachgereichten Nebensatz für ausschlaggebend. Man nehme das Standardbeispiel für Kontrollverlust aus einigen alten und weitgehend verhassten DSA-Abenteuern: Die Chars werden zu Beginn gefangengenommen, ohne sich sinnvoll wehren zu können, und verlieren ihre Ausrüstung. Der Kontrollverlust findet hier aber wirklich nur in dem Moment statt, wo die "Helden" in die Scheiße geritten werden, ohne dass zum Beispiel ihre Gegenwehrversuche eine Wirkung zeigen würden. Sitzen sie dann erst einmal in obiger Scheiße, dann können, ja sollen sie wieder proaktiv sein und sich durch ihre Heldentaten befreien und nebenbei die Welt oder etwas Vergleichbares retten.
Das Problem bei dieser Art von Kontrollverlust ist im Grunde nur das Skript, also ein Handlungsverlauf, auf den die Spieler/Chars keinen oder nur scheinbaren Einfluss haben. Würde eine solche Situation aber durch die Aktionen der Chars und einen Würfelwurf herbeigeführt, dann sähe die Sache anders aus, der Kontrollverlust würde womöglich nicht einmal als solcher empfunden werden. In diesem Fall würde man es wahrscheinlich "Konsequenz" nennen und mit etwas Glück total cool finden.
Letztlich ist das aber auch nicht der Punkt, auf den ich hinaus will. Sondern ich denke seit einigen Tagen über den Reiz nach, den Kontrollverlust auch und gerade aufgrund "sozialer" Würfe haben kann. Hier geht es aber um den empfunden Kontrollverlust des Spielers über seine Figur, nicht den der Figur selber. Und je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr drängt sich mir der Gedanke auf, dass wirkliches Eintauchen in eine Figur (das, was man Immersion nennt), wirkliches Darstellen einer Figur eigentlich sogar kaum möglich ist, wenn man nicht die Kontrolle abgibt.
Und zwar denke ich hier vom Theater herkommend. Hier wird der Darsteller einer Figur über weite Teile von der Figur beherrscht. Denn der Schauspieler entscheidet ja nicht über die Reaktionen seiner Figur. Er kann nicht bestimmen, dass die Figur doch lieber einen Wutausbruch statt eines Heulanfalls bekommt, das entscheidet die Figur. Aufgabe des Darstellers ist es, sich in diese Figur mit ihrem Heulanfall hineinzudenken und sie quasi nachschöpferisch zum Leben zu erwecken.
Und gerade da, wo im Rollenspiel immer so viel von Chardarstellung, von in-time-Sprechen etc. geredet wird, müsste man doch eigentlich ein ähnliches Vorgehen erwarten. "In eine Rolle schlüpfen" heißt doch der heilige Gral des Rollenspiels. Aber je weniger ich als Spieler bereit bin, Kontrolle über meine Figur abzugeben, desto weniger brauche ich zu schlüpfen, desto mehr kann ich auf meinen vier Kontrollbuchstaben sitzen bleiben. Anders gesagt: Wenn ich immerzu entscheide, wie mein Char zu reagieren hat, werde ich nie erfahren, wer der Char ist, wie er tickt, wo er überrascht. Denn das wird alles immer von mir vorgegeben. All diese Dinge weiß ich immer schon vorher. Char-Exploration hat sich damit erübrigt. Gebe ich die Kontrolle aber - zum Beispiel - an einen Würfelwurf ab, dann werde ich mit einer von meinen Entscheidungen tatsächlich unabhängigen fiktiven Persönlichkeit konfrontiert, in die zu schlüpfen dann doch tatsächlich eine besondere darstellerische Genugtuung sein müsste.
Meiner Figur wird vom Händler Schund aufgeschwatzt, ohne dass ich das entschieden habe, Schicksal, lebe damit. Sie verfällt den Lehren eines Predigers, was für eine darstellerische Herausforderung. Sie erliegt dem Charme eines verführerischen Androgynos, wer hätte das für möglich gehalten? Sie glaubt dem Hauptverdächtigen im Mordfall, wenn dieser seine Unschuld beteuert, na warum sollte sie nicht, wo sie doch nun mal so strunzdumm ist? Und was für ein Spaß, sich zu überlegen, wie man das am Tisch umsetzt.
Ich nehme mir jetzt mal vor, in nächster Zeit mehr auf solche Situationen zu achten, um das weiter auszutesten. Mein Bauchgefühl sagt mir aber in diesen ganzen Diskussionen bereits jetzt schon, dass in dieser Richtung der Gral des immersiven Darstellerrollenspiels zu finden sein müsste.
Let's zoff! Die Diskussion ist eröffnet.