Character exploration auf diese Weise ist schön und gut, wenn es dem gemeinsamen Spiel förderlich ist. Dadurch muss trotz des "leichten Kontrollverlustes" (ich würde hier eher von was anderem sprechen, siehe unten) eine gewisse Kontrolle doch darüber übrig bleiben, die Rolle entsprechend der Tisch- und Settingkonventionen in verträglichen Bahnen zu halten. Der Spieler muss in meinen Augen also immer in gewisser Weise als "enabler" der gespielten Rolle im Hintergrund bleiben, um im Notfall die Reißleine zu ziehen, wenn das Ganze mit ihm durchgeht.
Das, wovon du sprichst, korknadel, hat meiner Meinung nach weniger mit dem Verlust der Kontrolle zu tun, als mit progressivem Charakterdesign im Spiel. Wer seine Figur und Rolle (der er sich als Spieler in gewisser Weise unterzuordnen hat, wenn es ihm um eine gewisse Immersion geht, da gebe ich dir recht) nicht in Stein meißelt und mit jedem gespielten Moment neu ausformt bzw. weiterentwickelt, hat in der Regel kein Problem damit, Reaktionen nach Würfen auszurichten und so neue Ebenen des gespielten Charakters zu erfahren.
Ich meine das nicht als nit-picking im Bezug auf den Begriff. Ein Verlust der Kontrolle wäre in diesem Augenblick für mich sogar fatal. Es ist absolut notwendig, dass der Spieler zu jeder Zeit willens und in der Lage ist, die Ausgestaltung seines Charakters persönlich vorzunehmen. Es geht in erster Linie nur darum, wie offen er die Gesetze dieser Gestaltung ansetzt. In gewisser Weise kann man hier zwar von einem "Loslassen" von festgefahrenen Annahmen über die Motive und Persönlichkeit der Figur sprechen, um diesen neuen Entwicklungen überhaupt offen begegnen zu können, die Kontrolle darüber, was letztlich mit der Figur geschieht, darf allerdings nicht verloren gehen. Sich den Bedingungen der gewählten Rolle zu unterwerfen, die man gleichzeitig mitgestaltet, kann eben nicht bedeuten, die Verantwortung über ihre Integration in das gemeinsame Spiel abzugeben. Gerade dann landen wir bei "ich kann da nichts für, so ist mein Charakter eben".
Natürlich bin ich mir bewusst, dass das von dir verwendete Wort in gewisser Weise schon zutrifft, weil "Offenheit" auch irgendwie "nicht verbissen sein" heißt und das widerum irgendwas mit Kontrolle zu tun hat. Ich möchte das lediglich so eindeutig und hart getrennt wissen, weil ein Missverständnis in diesem Zusammenhang meiner Meinnug nach sowohl im Rollenspiel, als auch in der von dir eingebrachten theatralen und auch in der literarischen Kunst, immer wieder zu Katastrophen führt. Es gibt auch Autoren, die sich ihrer Verantwortung für die Aufrechterhaltung ihrer Geschichte und Ausgestaltung von Spannungsbogen und Plot entziehen, indem sie behaupten, ihre Figuren hätten sich einfach selbstständig gemacht. Oder Schauspieler, die Rollen entstellen, weil sie davon überzeugt sind, dass die Rolle "das so will". Oder eben das lästige "mein Charakter ist eben so" im Rollenspiel. Das ist im Grunde "character exploration gone rogue" um im Kontext dieses Threads zu sprechen. Damit geht oftmals eine ganze Mentalität her, die der Dominanz der Figur viel zu viel und der Verpflichtung des Autors, diese zu kontrollieren, viel zu wenig Gewicht beimisst. Und die glaubt, die Kontrolle über das verlieren zu müssen, was sie entwickeln und darstellen, um diesem fiktiven "Etwas" genug Raum zur Entfaltung geben zu müssen.
Gerade in einem "coporative effort", wie im Rollenspiel, gibt es in meinen Augen nichts Wichtigeres, als diesen Fehlschluss, bzw. diese Illusion zu vermeiden. In dem Augenblick, wo man die Gestaltungskompetenz- und verantwortung an das fiktive Konstrukt abgibt, das überhaupt erst durch die persönliche Interpretation ihrer Prämissen, Grenzen und Motivationen existiert, tritt man im Grunde genommen mit Anlauf gegen die gemeinsam errichteten Säulen des Fundaments, das die gemeinsame Vorstellungswelt, den Gruppenvertrag und all das schöne Zeug, was das "wir spielen zusammen make belief" überhaupt ermöglicht. Da erfahrungsgemäß die wenigsten Spieler sich dieser Verantwortung immer zu 100% bewusst sind, ist Chaos und Stunk dann eigentlich vorprogrammiert.
Ein ganz toller Post, vielen Dank!
Ich möchte dazu zwei Dinge noch einmal klären, denn eigentlich sind wir weitgehend einer Meinung:
Den Begriff "Kontrollverlust" habe ich nicht benutzt, weil es mir darum ginge, dass man alle Zügel fahren lässt, sondern weil von Spielern, die sich nicht gerne in ihren Char pfuschen lassen, oft davon gesprochen wird, dass sie die Kontrolle behalten wollen, zumindest sinngemäß. Es geht mir also nur darum, in wie weit man an diesem einen Punkt im Verhältnis von Figur und Spieler, der von vielen als Kontrollverlust empfunden wird, sich auf eben diesen einzulassen bereit ist. Was ich damit sicher nicht meine, ist, dass sich alle Spieler irgendwelchen Eingebungen öffnen und wild assoziierend zu einem blinden Rollenroulette übergehen.
Und was Du bezüglich dem Settingrahmen als Kontrollmarken ansprichst: In meiner Vorstellung deckt sich das 100%-ig mit der Formulierung, dass die Figur den Spieler lenkt. Denn - jetzt mal ganz platonisch ideal gesprochen - wer kennt sich in der Spielwelt besser aus als die Figur, die in ihr lebt? Die Figur kann den Settingrahmen aus eigener Kraft gar nicht sprengen, das kann nur geschehen, wenn ein Spieler die Kontrolle - jetzt in meinem Bild gesprochen - nicht an sie abgibt, sondern zu sehr selbst lenkt. Das banalste und alltäglichste Beispiel wäre hier das (von Sashael schön illustrierte) Problem von Spieler- und Charwissen. Kontrolliert die Figur den Spieler, kann der Spieler sein Spielerwissen nicht anbringen. Die Spielwelt bleibt in sich konsistent.
Übrigens ist mein Schauspiel-Beispiel in diesem Sinne auch platonisch ideal gemeint, deshalb auch der Hinweis, dass mir der Theaterbetrieb an dieser Stelle egal ist. Julia folgt der Logik der Spielwelt des Stücks und bringt sich am Ende um (oweh, Spoiler!). Das hat auch die Schauspielerin zu schlucken und zu spielen, die vielleicht aufgrund der Logik ihrer eigenen Befindlichkeiten lieber hätte, dass Julia zur taffen Amazone wird, die einen Rachefeldzug startet. Für diese Überlegung spielt es keine Rolle, wie das nun in welcher Inszenierung tatsächlich umgesetzt ist und welche Schauspielerin die Julia jetzt besonders gut oder schlecht spielt. Folgt die Schauspielerin der Figur, bleibt die Logik des Stücks erhalten. Folgt der Spieler seiner Figur, bleibt - idealiter - auch die Konsistenz der Spielwelt erhalten.
Ich habe während meiner aktiven Zeit ja doch so einige Rollen auf der Bühne verkörpert, und es gab nur sehr selten Momente, wo die Logik der Figur, die ich gespielt habe, meiner eigenen entsprach. Und genau DAS ist es, was am Schauspiel Spaß macht.
So das Gedankenkonstrukt. Aber so wie ich es sehe, verträgt sich dieses Konstrukt eigentlich mit allem, was der Wise Old Man gesagt hat.
@Boba:
Selbstverständlich können wir hier nur von und für Spieler sprechen, die voll immersiv sind oder sein wollen. Was mich zu der Überlegung ja angestachelt hat, ist ja gerade der von mir empfundene Widerspruch, dass Leute, die gern das Vollabtauchen abfeiern, andrerseits meinen, das ginge nur, wenn sie die Figur totalitär lenken. Und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr ist diese absolute Kontrolle über die (sozialen) Reaktionen der Figur nichts anderes als ein darstellerisches Pöppelschubsen. (Wobei die Übergänge natürlich immer fließend sind und fließend sein müssen).
Man sollte vielleicht bedenken dass Kontrollverlust in beide Richtungen funktioniert. Natürlich entzieht es dem Spieler in gewisser Weise die Kontrolle über die eigene Figur. Aber es entzieht dem Spielleiter auch die Kontrolle über die NSCs. Der Händler gibt zu dass seine Waren Schrott sind und bietet Geld für das schweigen, der Prediger bemerkt das seine Religion in sich nicht schlüssig ist und zweifelt, der Androgynos krempelt sein Leben um und geht eine dauerhafte Beziehung ein.
Natürlich kann es dazu kommen das sich der böse Nekromant von den Spielern überzeugen lässt ihnen zu helfen anstatt sie zu bekämpfen. Aber das klingt doch nach einer spannenderen Geschichte als ihn zu töten. selbst wenn es eigentlich als drei monatige Kampagne geplant war.
Ja, finde ich auch einen guten Hinweis in dieser Betrachtung. Allerdings habe ich schon den Eindruck, dass viele Spieler solche Reaktionen von NSCs durchaus erwarten. Schließlich hat man ja so geile Charisma-Werte auf dem Charbogen, und dazu legt man ja auch noch eine noch viel geilere Show am Spieltisch hin. Da müssen die NSCs sich schon von den PCs beeindrucken lassen gefälligst. Andrerseits lässt dann aber der Spieler, dessen Char einen negativen Klugheitswert hat, nicht zu, dass seiner Figur ein x für ein u vorgemacht wird. So jedenfalls ist mein Eindruck aus vielen Diskussionen zum Thema "soziale Konflikte im Rollenspiel."