Nachdem ich ein bisschen drüber nachgedacht habe, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass eigentlich recht häufig solche plötzlichen, unvermeidbaren und unvorhergesehenen Ereignisse gibt, mit denen und deren Folgen sich die SCs herumschlagen müssen. Die Frage ist vielleicht hauptsächlich, wie sie ins laufende Spiel gebracht werden.
Nehmen wir als Beispiel eine klassische Hexploration.
Ich habe eine Südseeinsel gezeichnet, die Hexfelder mit Gegenden markiert (Dschungel, Sumpf, Hügel/Berge, Savanne) und ein paar interessante Orte + Dungeons eingezeichnet. Es gibt einen Vulkan, eine Siedlergemeinde, ein Dorf mit humanoiden, reptilienhaften Eingeborenen, einen verfallenen Tempel des Schlangengottes, einen Schiffsfriedhof, wo es spuken soll, verlassene Pfahlbauten einer altertümlichen Kultur, eine Schmugglerhöhle und noch ein, zwei Orte zum erforschen. Zu jeder Landschaft habe ich eine Zufallstabelle entworfen, die einmal tagsüber und einmal nachts konsultiert wird. Wenn es zu einer Zufallsbegegnung kommt, besteht eine 5% Chance, dass statt einer normalen Begegnung ein "Inselereignis" eintritt. Dazu würfelt man auf der Inselereignis-Tabelle, und es kann zu Ergebnissen führen wie "Der Vulkan bricht aus", "Sklavenhändler laufen mit einem großen Schiff in den Hafen der Siedlergemeinde ein", "Piraten überfallen die Siedlergemeinde", "Eine Flutwelle überschwemmt den Schiffsfriedhof (oder die Siedlergemeinde)", "Ein alter blauer Drache erwacht in den Bergen" und "Die Eingeborenen und die Siedler geraten in Streit".
Das sind alles Ereignisse, auf die die Spieler/SCs keinen Einfluss haben, an denen sie eventuell nicht mal direkt und unmittelbar beteiligt sind, wenn die Piraten beispielsweise gerade dann das Dorf überfallen, wenn die Spieler im Dschungel nach dem Schlangentempel suchen. Unabhängig davon bleibt das aber eine typisch offene Weltexploration. Durch den Zufallsfaktor können die Ereignisse, besonders wenn man die gleiche Kampagne mit verschiedenen Gruppen spielt, zu unterschiedlichen Zeiten eintreten, was zu ganz anderen Storyverläufen führt.
Die nächste Stufe tritt ein, wenn solche Ereignisse mit etwas mehr Spielleitervorplanung eingeführt werden. Mal drei Beispiele: klassische Zeitlinien, Plot Stress und Katastrophen-Countdown.
In klassischen Zeitlinien ("Timer") wird einfach festgelegt, wann ein bestimmtes Ereignis eintritt, beispielsweise "am 25. Tag auf der Insel fährt ein Piratenschiff in den Hafen der Siedlergemeinde ein und beraubt diese oder erreichtet dort einen Piratenstützpunkt". Wie sich dieses Ereignis konkret abspielt, kann man auf zwei idealtypische Arten ausspielen: Entweder, indem die Konsequenzen als unveränderbar interpretiert werden (was leicht in Illusionismus/Eisenbahn ausartet), oder indem das Ereignis als Aufhänger für offene Szenen interpretiert wird und die Veränderungen, welche die SCs bis zum Tag X bewirkt haben, berücksichtigt wird. Haben sie bis dahin z.B. eine Gruppe Stammeskrieger der Eingeborenen überzeugen können, das Dorf zu beschützen? (Mein Problem beim Leiten mit Zeitlinien-Abenteuern ist, dass oft nicht klar ist, was die Autoren vom SL wollen, ob er die Zeitlinie durchpeitschen oder sie flexibel handhaben soll.)
Plot Stress (z.B. FATE: Legends of Anglerre) funktioniert so, dass in Abhängigkeit von den Spielergebnissen am Tisch eine bestimmte Menge an "Plot-Schaden" erzeugt wird, und wenn der festgelegte Grenzen überschreitet, tritt ein Plot-Event ein. Die Dynamik der Ereignisse hängt also nicht vom spielweltlichen Zeitverlauf ab (wie bei klassischen Zeitlinien), sondern ist an die Handlungen der SCs, an ihre Erfolge und Misserfolge rückgebunden. Beispielsweise löst eine erfolgreiche Expedition in den Schlangentempel 5 Punkte Plot Stress aus, jeder Misserfolg 2 Punkte usw. Sobald 10 Punkte Plot-Stress ausgelöst wurden, tritt das erste Inselereignis in Kraft (z.B. Sklavenhändler lassen sich in der Gemeinde nieder). Man kann natürlich auch verschiedene Plot-Stress-Polster bauen, die unmittelbar an bestimmte Ereignisse gebunden sind. Beispielsweise werden alle Plot-Stress-Punkte, die mit dem Schlangentempel und den Dschungelfeldern verbunden sind, als Schaden aufs Drachen-Plot-Polster angerechnet. Bei 10 Punkten auf diesem Polster erwacht der Drache.
Der Vorteil liegt darin, dass die Ereignisse zwar der Willkür des Spielleiters entzogen sind, aber trotzdem ein klein wenig an den "Fortschritt" der Abenteurer in der Inselerkundung (und hier kann man bedenkenlos sagen: der Story) angebunden sind.
Im Katastrophen Countdown (z.B. Monster of the Week, Dungeon World) hat der SL einfache ein oder zwei Listen an Ereignissen, die der Reihe nach eintreten, wenn die Spieler/SCs nichts tun, die Hände in den Schoß legen oder komplett in ihren Versuchen versagen (was vom Ausspielen + Würfeln abhängt). Dann werden der Reihe nach diese Katastrophen mit all ihren Konsequenzen vom Spielleiter eingeführt. Beispielsweise könnte es einen Katastrophen Countdown "Zwist auf der Insel" geben, der aktiviert wird, wenn die Spieler sich nicht oder ungeschickt/undiplomatisch mit den Echsenmenschen beschäftigen: 1. Aufgrund eines Missverständnisses platzt ein Handel zwischen Echsen und Siedlern 2. Der Echsenschamane verflucht die Siedlergemeinde 3. Unter den Siedlern bildet sich ein Mob, der Echsenmenschen im Dorf lyncht 4. Stammeskrieger der Echsen überfallen Farmer/Holzfäller der Siedler 5. Echsen und Menschen/Elfen/Zwerge rüsten zum Krieg 6. Der Stammesschamane erweckt in einem Ritual den Drachen.
Das wäre zwar eine ziemlich vorstrukturierte Geschichte, aber es liegt immer noch an den Spielern, ob und wann und unter welchen Umständen diese Ereignisse eintreten. Teilweise sind die Punkte sogar direkt ans Spielgeschehen rückgebunden. Wenn der SL sich an die Countdowns hält, kann er auch nicht willkürlich Ereignisse einstreuen.
Nach solchen Zwischenschritten kommt am Ende natürlich der Punkt, an dem Ereignisse allein vom Spielleiter oder Abenteuerautor als feste, vorgegebene Ereigniskette eingeführt werden. Das muss noch nicht heißen, dass die Spieler garnichts an den Konsequenzen ändern können und alle Ergebnisse feststehen, aber es heißt auf jeden Fall, dass der Spielleiter eine ziemlich starke Rolle als Antreiber der Story hat (es gibt Spieler, die das so wollen). Im Inselbeispiel würde das dazu führen, dass die Ereignisse dann eintreten, wenn der Spielleiter das Gefühl hat, dass es dramaturgisch passend wäre. Oder es gibt eine Kette, die vorschreibt: Zuerst kommen die Sklavenhändler, dann die Piraten, dann die Sturmschäden, dann der Streit mit den Echsen, dann erwacht der Drache und zum Schluss bricht der Vulkan aus. (Das die Idee, wie spätestens seit den 1980ern Storyerzählung und Rollenspiel miteinander verknüpft wurden. Tendenziell führte das bekanntermaßen dazu, dass nicht nur die Ereignisse, sondern auch ihr individueller Verlauf und ihre Konsequenzen dem Einfluss der Spieler/SCs entzogen wurden, aber das muss ja nicht notwendigerweise der Fall sein.)