Ich habe mir nach der amüsanten Charaktererstellung gestern bei DCC ein paar Gedanken über Charaktererschaffung und darüber gemacht, wie verschiedene Systeme unterschiedlichen Vorstellungen davon entgegenkommen, wie (also in welcher Art und Weise) eine fiktive Figur beschrieben sein sollte. Das könnte vielleicht auch irgendwie mit ähnlichen Vorlieben bezüglich erzählender Texte in Zusammenhang stehen, ich will mich da aber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen ... erst mal geht es mir nur um die Frage nach möglichen Herangehensweisen der Spieler an die Definition ihrer Figuren im Rollenspiel.
1. Positivistisch: Eine gute, befriedigende Beschreibung einer Figur besteht aus einer großen Menge an Informationen über eine Figur. Wichtig ist, dass es sich nicht einfach um eine willkürlich zusammengetragene große Informationsmenge handelt, sondern um kategorisierbare Informationen, anhand derer verschiedene Figuren vergleichbar werden. Wenn ich über die eine Figur weiß: "isst gern scharf" und über die andere "Ihr Vater arbeitet bei IBM", dann lässt sich kaum eine gemeinsame Kategorie für diese beiden Eigenschaften finden, die sie vergleichbar macht. Wenn die eine Figur dagegen "magiebegabt" ist und die andere "nicht magiebegabt", wenn die eine Stärke 5 hat und die andere Stärke 7, dann sind das Informationen, die innerhalb eines gemeinsamen Systems eine feste, zu einander in Bezug zu setzende Bedeutung haben. Komplexität hat bei solchen Figuren die Form eines Tableaus zahlreicher Eigenschaften, die durchaus auch in unerwarteter Weise zusammenspielen können.
Warum mache ich dabei die Kategorisierbarkeit der Eigenschaften so wichtig? Erstens ist sie typisch für fast alle Systeme mit komplexer Charaktererschaffung, zweitens habe ich die Vermutung, dass dieser Ansatz der Figurendefinition auf ein positivistisches Wissenschaftsverständnis zurückbezeiht, in dem die Kategorisierbarkeit von Informationen halt auch wichtig ist. Weiß leider nicht, ob und wie sich diese Relevanz argumentativ begründen lässt.
Systeme, die einem solchen Begriff der Figurenentwicklung entgegenkommen, sind natürlich welche mit komplexer Charaktererschaffung - Dsa4+, Rolemaster, Splittermond ... ich denke, solche Systeme bieten dann auch deshalb oft die Verregelung für das eigentliche Spiel eigentlich weitgehend überflüssiger Eigenschaften an, um dem Bedürfnis entgegenzukommen, eine möglichst umfassende Charakterbeschreibung zu erstellen, die eben nicht einfach aus einer willkürlichen Aufzählung von Informationen, sondern an einer großen Menge von in ein System eingebundenen Inforamtionen besteht. Man setze hier den gedanklichen Link zum Barbiespiel.
2. Archetypisch: Der Charakter wird durch eine kleine Zahl allein für ihn typischer Eigenschaften definiert, die nicht zwangsläufig kategorisierbar sein müssen. Oft bringen diese Eigenschaften einen Konflikt zum Ausdruck ("Robart ist ein ängstlicher Freiheitskämpfer"). Hier ist es gut denkbar, dass Eigenschaften wie "Isst gern scharf" und "ihr Vater arbeitet bei IBM" regeltechnisch auf der gleichen Ebene angesiedelt sind. Komplexität entsteht durch die Konfrontation dieser Eigenschaften mit der Welt (hier dürfte es eine Verbindung zu 3, Dialektisch, geben); Charaktere sind zwar nicht zwangsläufig statisch, aber bleiben durch (in einigen Fällen vielleicht auch mal wechselnde) individuellen Kerneigenschaften definiert.
Das System schlechthin für diesen Ansatz ist natürlich FATE mit seinen Aspekten, sonst fällt mir noch Numenera ein; aber es gibt sicher zahllose andere.
3. Dialektisch: Der Charakter entsteht während des Spiels in Wechselwirkung mit der Welt. Eine vom Spiel losgelöste Beschreibung vorab ist nur in sehr groben Zügen vorhanden; Eigenschaftswerte sind in erster Linie Katalysatoren, die die Figur über die Spielregeln mit der Welt interagieren lassen; Ergebnisse dieser Interaktion sedimentieren zu einem veränderlich bleibenden Bild des Charakters.
Hierzu fallen mir vor allem Erschaffungssysteme ein, die dem Zufall eine Rolle überlassen und sich auf wenige Eigenschaften beschränken: Einerseits also viele Old-School-Spiele wie eben DCC, andererseits aber auch Indies wie Fiasko.
Natürlich sollen das keine einander ausschließenden Modelle sein, sondern eher ein Spektrum von Herangehensweisen, die sich mischen oder auch abwechseln können. Ich persönlich schwanke in der Regel zwischen dem archetypischen und dem dialektischen Ansatz, Spiele, die den positivistischen Ansatz begünstigen, sind dagegen nichts für mich.
EDIT: Ach ja, ich habe die Vermutung, dass moderne D&D-Systeme wohl irgendwo zwischen 1. und 2. angesiedelt sein dürften, mit deutlichem Drall in Richtung "Archetypisch"; ich kenne mich mit denen aber einfach nicht so gut aus ...