Meine Version:
Inspiration wird nicht für "charaktergerechtes" aka "gutes" Rollenspiel vergeben. Sondern dafür, dass die "weichen" Eigenschaften eines SC (im Gegensatz zu den nackten Zahlen) aktiv die Fiktion in relevanter Weise beeinflussen, und das kann entweder bedeuten, dass eine im Background eines SC verankerte Aktion die Gruppe voranbringt, oder ihr aber neue Schwierigkeiten beschert. Letzten Endes sind Gummipunkte ja immer Player Empowerment, wobei das bei D&D 5 sicher eher zaghaft stattfindet und nicht so explizit formuliert wird, wie in den Indie-Spielen, die ich hier als Einflüsse ausmache.
Beispiel:
Ideal: Die Existenz von Untoten ist blanke Häresie - ich werde dafür sorgen, dass die Toten in ihren Gräbern bleiben.
Flaw: Vorausplanen? Von wegen - einfach drauf los!
Situation: Die Gruppe steht vor dem Eingang einer Gruft, in der es bekanntermaßen von mächtigen Untoten nur so wimmelt.
Aktion: Charakter tritt die Tür ein, schreit: "In Kelemvors Namen, die Toten müssen ruhen!" ==> *initiative*
Das wäre eine Situation, in der besagter Charakter sich einen Punkt Inspiration verdient hätte. Grund: Die unüberlegte Vorgehensweise des Charakters ist einerseits fest in seinem Background verwurzelt, trägt andererseits dazu bei, die Dramatik der Szene zu erhöhen, wovon letztlich alle am Tisch profitieren.
Gegenbeispiel:
Ideal: Das Wort Lathanders muss verbreitet werden.
Flaw: Ich bin eine furchtbare Nervensäge.
Situation: Die Gruppe erreicht den zentralen Platz von Niewinter
Aktion: Charakter steigt auf eine Orangenkiste und predigt unablässig von Lathanders Gnade.
Dafür gibt es nichts. Die Aktion ist zwar im Background verwurzelt, bringt aber die Geschichte nicht weiter und bezieht sich noch dazu eigentlich nur auf den SC selbst - der Rest der Gruppe ist dadurch nicht betroffen.
Es ist übrigens aus meiner Sicht ein Missverständnis, zu glauben, die Backgrounds würden dazu dienen, dem Spieler eines Charakters zu erklären, wie er sich zu verhalten habe. Ganz im Gegenteil verstehe ich sie (wie z.B. die Aspekte bei Fate oder die BITs bei Burning Wheel) als einen mit der Spielmechanik verzahnten Kommunikationskanal, auf dem der Spieler dem SL und seinen Mitspielern mitteilen kann, was ihm an seinem Charakter wichtig ist, und wie sich die gemeinsam erzählte Story auf seinen Charakter beziehen soll.
Wenn ein Spieler ein Ideal schreibt, das ihn als Jäger der Untoten beschreibt, dann weiß ich als SL, dass der Spieler sich sicher darüber freut, wenn ich den einen oder anderen Zombie seinen Weg kreuzen lasse. Wählt er ein Flaw, das besagt dass er Schwierigkeiten mit Autorität hat, dann teilt er mir dadurch mit, dass ich seinen SC bitteschön in genau solche Situationen bringen soll, in denen sein Widerspruchsgeist ihm (und der Gruppe) Schwierigkeiten bereitet. Wichtig ist dabei allerdings, dass solche Schwierigkeiten keine Bestrafung sind, sondern Komplikationen auf der Story-Ebene die zu neuen Herausforderungen oder Abenteuern führen.
Die Traits, Ideals, Bonds und Flaws aus dem Backgrounds-Kapitel betrachte ich dabei übrigens nur als Beispiele. Sobald man den Mechanismus einmal verinnerlicht hat, ist es natürlich viel interessanter, sich seine eigenen "TIBFs" auszudenken, um dem SL dadurch mitzuteilen, was man gerne erleben würde. Implizit wird dadurch übrigens aus meiner Sicht in gewisser Wese ein eher freier Spielstil favorisiert, in dem ein starker vom SL oder einem AP-artigen Abenteuer vorgegebener Story-Faden eher stört.