Hallo,
ich bin ein alter Midgardhase und spiele Midgard seit 30 Jahren. In meiner aktuellen Midgard-Runde stehen ein paar größere Umwälzungen an, über die ich ganz gern ein paar unabhängige Meinungen hören möchte.
Zur Situation: In der Gruppe, um die es geht, spiele ich seit 18 Jahren Midgard. Inzwischen sind wir uralte Freunde... und das mit all seinen Vor- und Nachteilen. Der Spielleiter bin immer ich (was ich o.k. finde, aber nicht zwangsläufig so bleiben muss). Dazu kommen 6 Spieler. Im Prinzip spielen wir die Midgard-Kaufabenteuer, die ich zu einer Kampagne zusammenstelle und zu diesem Zweck manchmal etwas abändere. Wir sind aber relativ nah dran, an der offiziellen Linie. Es gibt hin und wieder mal einen Spieler, der die Stadt verlässt oder aufhört, dann kümmern wir uns um Nachwuchs, was bisher auch immer funktioniert hat. Es gibt auch immer mal wieder einen Charakter, der stirbt, dann wird eben ein neuer gemacht. Das hat zur Folge, dass die Gradunterschiede zwischen den einzelnen Charakteren manchmal etwas größer sind, gestört hat das aber bisher niemanden. Wir haben als Spieler und als Charaktere zusammen schon ´ne Menge durch. Ein einziges Mal haben wir in all den Jahren etwas massiver in die Kampagnenplanung eingegriffen: Wir haben damals den dritten Teil der "Karmodin-Kampagne" gespielt (Haut des Bruders). Der vierte Teil war noch lange nicht in Sicht und zumindest ein paar der Charaktere waren schon etwas höhergradig. In dieser Situation haben wir uns entschlossen, diese Charaktere zu parken. Wir haben ihnen nette Jobs verschafft und neu begonnen. Unsere Absicht war es, die neuen Charaktere so lange Erfahrung gewinnen zu lassen, bis sie mit zwei zentralen Charakteren aus der Karmodin-Kampagne mithalten können. Wir hofften, dass dann der letzte Teil der Karmodin-Kampagne veröffentlicht sein würde. Dann würden wir die alten Charaktere (und damit auch deren Wissen um die ersten Teile der Kampagne) wieder aktivieren und mit den hochgelernten neue Charakteren zusammen die Karmodin-Kampagne beenden lassen.
Soweit unser Plan. Nun ist es soweit: Seit etwa einem dreiviertel Jahr spielen wir den letzten Teil der Karmodin-Kampagne, und zwar in etwa so, wie geplant. Wenn es so weiter geht wie bisher, sind wir in etwa einem halben Jahr durch.
Kleiner Exkurs: In all den Jahren habe ich neben Midgard auch immer Ars Magica gespielt. Seit es Ars Magica 5 gibt, hat sich meine Begeisterung für Ars Magica nochmal ziemlich gesteigert. Inzwischen stellt Ars Magica für mich ganz klar das wichtigere System dar. Ich will hier auf gar keinen Fall ein System gegen das andere aufrechnen, es ist mir aber wichtig, darzustellen, dass es andere Spielkonzepte als Midgard gibt, die ich innovativer und spannender finde. Nun naht das Ende der Karmodin-Kampagne, und diese Kampagne hat uns als roter Faden wirklich die gesamten 18 Jahre hindurch begleitet (Wir haben damals mit 40 Fässer Pfeifenkraut angefangen). Leider muss ich feststellen, dass für mich das Rollenspiel in dieser Runde immer weniger attraktiv geworden ist. Ich habe das zum Anlass genommen, um mal in die Runde zu werfen: Was machen wir eigentlich, wenn die Karmodin-Kampagne vorbei ist? Wollen wir nichtmal irgendwas verändern? In dieser Diskussion stecken wir jetzt.
Die Gründe dafür, warum ich nicht mehr so richtig zufrieden mit der Gruppe bin, sind natürlich vielfältig. Es stellte sich auch sehr schnell heraus, dass die Mitspieler teilweise andere Dinge gut und schlecht finden, als ich das tue. Das macht es nicht einfacher. Ich versuche einfach mal, die wichtigsten Aspekte zu nennen:
1. Probleme am Spieltisch: Wir spielen schon so lange zusammen und kennen uns schon so gut, dass bei uns Dinge geschehen, die anderswo wahrscheinlich Irritationen hervorrufen würden. Leute kommen zu spät. Leute hatten einen harten Tag hinter sich, können nicht mehr und pennen ein, Leute sind gerade nicht persönlich beteiligt und klickern auf ihrem Tablet herum... man kennt sich eben und kann sich das deshalb erlauben, warum auch nicht, das hat sich nach und nach so eingeschliffen.
2. Probleme des Spielleiters (meine eigenen also): Auch ich habe einen harten Job und nicht unbegrenzt Zeit zur Vorbereitung. Ich habe inzwischen auch mehr Lust, mich um meine Ars Magica Runden zu kümmern. Die mangelnde Vorbereitungszeit war ursprünglich mal der Grund dafür, überhaupt zu Kaufabenteuern zu greifen. Inzwischen denke ich, dass es Midgardabenteuer gibt, die so komplex sind, dass sie eher mehr Vorbereitungszeit benötigen, als wenn ich etwas Freies erfinden würde. Ähnliches gilt für das Regelwerk. Ich finde Midgard 4 ein ziemliches Brett. Ich kenne mich zwar gut aus, aber nicht so gut, dass es nicht immer wieder noch etwas nachzuschlagen gäbe. Letztlich bin ich wahscheinlich zu perfektionistisch. Ich will nichts falsch machen. Also: Wie funktionierte dieser Zauber jetzt nochmal genau? Wie wird nochmal gewürfelt, wenn ein Tier einen Kehlbiss anwendet? Ist die Möglichkeit, für die sich die Charaktere jetzt entschieden haben eigentlich im Abenteuer vorgesehen, oder ist das ein Moment, wo ich frei improvisieren muss? Das sind die Art von Fragen, die bei mir öfter mal aufkommen und dann folgt in aller Regel Nachschlagen.
3. Passive Spieler: Ich kenne das auch ganz anders, und zwar auch wenn ich Spielleiter bin, in dieser Gruppe allerdings sind die Spieler sehr passiv. Es gibt wenig Charakterspiel. Der Sinn des Spiels - so erscheint es mir - ist, das Abenteuer zu einem guten Abschluss zu bringen. Gelegenheiten, mal eine feuchte Runde in einem Wirtshaus auszuspielen verstreichen daher oft ungenutzt. Auch Eigenheiten der Charaktere werden selten ausgespielt (wozu? das Abenteuer können wir doch auch so zuende bringen!). Wenn wir in einem Abenteuer an eine Stelle gelangen, wo nicht sofort ein Lösungsweg aufscheint, sind die Spieler ratlos. Es wird selten etwas gewagt und selten etwas ausprobiert. Meistens gebe ich nach einer Weile entnervt auf und liefere eben einen entscheidenden Hinweis nach. Irgendwie habe ich den Eindruck, es ist mehr Kino, was wir hier machen. Ich bin der Filmvorführer, die anderen schauen zu und geben hin und wieder mal einen Kommentar und ihr Einverständnis zum Geschehen ab. Manchmal bin ich genervt von dem dadurch zustande kommenden "railroading" und ärgere mich, dass sich niemand beschwert. Ich kenne nicht so viele Rollenspielsysteme. In Ars Magica wird aber viel mehr Wert darauf gelegt, dass ein neu entstehender Charakter auch ein Innenleben hat. Wenn schon zu Beginn feststeht, dass die Figur geizig ist und zwar deshalb, weil sie sich als schwarzes Schaf der Familie lange Jahre auf sich allein gestellt mit dem Allernötigsten begnügen musste und nun ihren bescheidenen Wohlstand allein den Umständen zuschreibt, dass sie in all diesen Jahren sparsam war... dann ist der Anreiz, so eine Figur farbig zu spielen doch eine Ecke größer, als bei Midgard, wo fast nur bestimmt wird, was der Charakter objektiv kann und was nicht, oder liege ich da falsch?
4. Regelballast: Ich habe hier im Forum gelesen, dass einige der Midgardregeln nur dann funktionieren, wenn man sie konsequent und komplett anwendet. Das gilt wohl insbesondere für die Erfahrungspunktevergabe. Das Problem ist nur: Ich halte diese Erfahrungspunktevergabe für einen riesen Klotz am Bein. Ich habe eigentlich überhaupt keine Lust nach jedem Kampf irgendwelche EP´s zu berechnen. Soweit das geht, habe ich die Erfahrungspunktevergabe daher in die Hände der Spieler gelegt. Wenn sie eine Fertigkeit erfolgreich anwenden, schreiben sie sich selbst 5 AEP auf... zumindest sollten sie es! Manche machen es, manchen ist es schnuppe. Das hat Folgen: Ein Spieler spielt einen Heiler und ist recht stark darauf bedacht, ja keinen EP zu verpassen. Obwohl auch noch ein anderer Charakter heilen kann, drängelt er sich bei der Versorgung von Verwundeten gern nach vorn. Der Spieler des anderen Charakters sieht normalerweise halbwegs gelassen darüber hinweg - sein Charakter hat ein paar Grade mehr, halb so wild. Trotzdem nervt das EP-Geiern ein wenig, weil ein paar der anderen Spieler nur ein sehr geringes Interesse daran haben. Ich selbst halte dieses Regelkonstrukt: "Es gibt EP´s als Belohnung für bestimmte Aktionen" für völlig unnötig. Ich will meine Spieler auch nur möglichst wenig "belohnen" oder eben "nicht belohnen" müssen. Das brauche ich nicht - ja, es ist mir sogar etwas unangenehm. In Ars Magica gibt es einfach Zeit: Einmal im Vierteljahr hat ein Charakter die Gelegenheit sich zu verbessern. Egal ob er vorher ein dickes Buch gelesen hat, ein Abenteuer bestanden hat oder zum Staubwischen abkommandiert war. Niemand muss EP´s notieren, niemand tut etwas deshalb, weil es dafür ja EP´s gibt... das gefällt mir besser.
5. Es ist nur ein persönliches Gefühl, das ich auch nicht genauer begründen kann, aber nach 30 Jahren Midgard - und das auch noch auf der Welt Midgard - habe ich den Eindruck, die großen Dinger, die mit diesem Spiel möglich sind, habe ich alle durch.
6. Erfahrungsdifferenz: Wir haben zwei relativ neue Spieler dabei, die ausgerechnet jetzt, wo die Karmodin-Kampagne zuende geführt wird, dazu gekommen sind und neue, eigene Charaktere spielen. Das war unglücklich, kam aber eben so. Natürlich hätte man die Charaktere gleich upgraden können, aber das haben wir noch nie gemacht, daher also bitteschön Grad 1. Keine glückliche Entscheidung, aber es ist eben so gelaufen. Zumindest einer der neuen Spieler fühlt sich ein bisschen wie Staffage, weil sein Charakter natürlich noch nicht viel kann. Er gibt sein Bestes, aber oft stellt sich heraus, dass die Situation eben durch die anderen bewältigt wurde und die Existenz seines Charakters eher überflüssig ist. Dieses Problem ist noch das kleinste, weil eine Lösung absehbar ist: Wenn die Kampagne vorbei ist, ziehen sich die hochgradigen Charaktere wieder auf ihr Altenteil zurück und es werden mittelstufige ausgepackt, die zuvor schon mal im Spiel waren. Die neuen Charaktere werden nach der Kampagne wahrscheinlich auch mittelstufig sein, sodass man näher beieinander ist.
Meine Ars Magica Runden laufen weitaus besser und machen mich viel glücklicher und zufriedener als diese Midgard-Runde und unter normalen Umständen würde ich die Runde wahrscheinlich hinwerfen, aber...: Ich mag die Typen sehr und wir sind seit 18 Jahren befreundet. So einfach ist das nicht.
Wir diskutieren im Moment per email seit etwa 2 Wochen, wie es weiter geht. Dabei wird deutlich, dass die Interessen ziemlich unterschiedlich sind. Hier ein paar Positionen meiner Spieler:
Position 1: Ich will nach Alba zurück. Wenn dann die hochgradigen Charaktere ihre Aktivität beenden und die Differenz zwischen den Charakteren nicht mehr ganz so groß ist, wird auch das Spiel besser.
Position 2: Es gibt Dinge, die gehen einfach nicht! Tablets vom Tisch, wenn der erste pennt endet der Abend! Der Spielleiter lässt mal fünfe gerade sein und blättert nicht so viel im Regelwerk, dann wird das Spiel auch flüssiger!
Position 3: Midgard 5 ist entschlackter. Wir spielen nach der Karmodin-Kampagne Midgard 5, dann wird das Spiel besser.
Position 4: Keine Position (hat sich bisher nicht geäußert).
Alles in allem sehen meine Mitspieler wohl ein, dass es in einigen Punkten nicht zum besten steht, aber insgesamt sind sie offensichtlich weniger unzufrieden als ich. Mir gehen diese Vorschläge nicht weit genug, d. h., ich glaube nicht daran, dass sich auf diese Weise das Spiel entscheidend verbessern wird. Ich scheine als einziger über radikalere Lösungen nachzudenken. Ich will vor allem offener spielen als bisher. Also:
Warum nicht mal das System wechseln? Es gibt Systeme, die ein offeneres Spiel stärker befördern als Midgard, oder? Es gibt auch Systeme, die einfacher sind als Midgard. Da wäre wahrscheinlich weniger Anlass, ständig nachzuschlagen. Ich hätte große Lust, etwas Neues auszuprobieren... dem entgegen steht ein fast schon starrköpfiges Beharren auf Midgard bei einem oder zwei der Mitspieler.
Für den Fall, dass es unbedingt Midgard bleiben muss, habe ich noch eine andere Idee, die ich mit den Spielern bisher noch nicht diskutiert habe. Sie lautet: Warum nicht diese ganzen Kaufabenteuer in die Tonne kloppen? Ich versetze die Gruppe auf die "Inseln unter dem Westwind", für diese Inselgruppe gibt es keine Informationen in Quellenbüchern, und wir spielen eine freie Survival-Steinzeit-Kannibalen-Kampagne, bei der ich nicht in irgendwelchen linearen Abenteuern nachschlagen muss, ob ich alles noch im Kopf habe, was mir der Autor hier erzählt.
Wer mir bis hierhin gefolgt ist: Vielen Dank. Habe ihr weitere Ideen, wie ich dieser Schnarchgruppe neues Feuer unter dem Hintern machen kann?
Chiarina.