Heute habe ich einen Satz gelesen, der bei mir ein paar Glöcklein des Verständnisses geläutet hat bezüglich eines schon lange vor sich hingärenden Themenkreises:
Gibt es nun "anspruchsvolle" Rollenspiele und wie sehen die aus?
Können Rollenspiele "Kunst" sein?
Kann man Rollenspiele bewerten im Hinblick auf den Anspruch bzw. auf deren künstlerischen Gehalt?
Diese Fragen werden und wurden ja schon vielfach mit großem Eifer und einer mitunter abstoßenden Heftigkeit diskutiert. Der Satz, welcher meinem Verständnis diesbezüglich auf die Sprünge geholfen hat, hat auf den ersten Blick gar nichts mit diesen Fragen zu tun und stammt aus dem Tanelorn:
Manche Leute denken mechanisch, also einzig und allein in Spielmechaniken; das hat mit Rollenspiel eigentlich recht wenig zu tun.
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Dazu fallen mir zwei Dinge ein, die mir in dieser Form noch nicht klar waren und die ich auch noch nirgends gelesen habe.
1. Der Satz beinhaltet eine enorm wichtige Unterscheidung in der Herangehensweise an Rollenspiele(rn), die bislang so noch nicht angedacht wurde.Es gab schon diverse Versuche, Rollenspieler zu klassifizieren. Das funktioniert natürlich immer nur teilweise. Es gibt schlicht zu viele Facetten im Rollenspiel und bei Rollenspielern, wodurch immer ein bisschen Information auf der Strecke und damit unerfasst bleibt. Andererseits ergeben Teile solcher Typologien oftmals auch Sinn und helfen durch ihre Vereinfachung beim Verständnis einiger Phänomene am Spieltisch.
In der GNS beispielsweise fand ich den Gamismus als Konzept eigentlich relativ eingängig – im Gegensatz zu den vollkommen vermurksten und kaum plausibilisierbaren N und S. In Deutschland existierte mal eine Strömung sehr lauter Spieler, welche eine mit dem Gamismus eng verwandte Spielart propagierte: herausforderungsorientiertes Rollenspiel ganz im Sinne des ursprünglichen Gamismus sowie Rollenspiel als (vornehmlich taktische) Weltensimulation. Parallel versuchte sich Florian Berger mal an einer Abgrenzung von Spielen und identifizierte dabei ein Schisma, welches nach seiner Auffassung aus taktischen und erzählerischen Spielen bestand.
Die gemeinsame Klammer ist nun, und damit kommen wir zum Kern des ersten Punktes und zugleich zurück zum Zitat, die Mechanik bzw. das der Mechanik beigemessene Gewicht. Damit meine ich das Ausmaß und die Wichtigkeit, welche Spieler und deren Runden der Mechanik im Rollenspiel beimessen. Man kann das meinetwegen mit Begrifflichkeiten wie Mechanik, Mechanikorientierung oder Mechanikpräferenz bezeichnen. Ich machs mir im Folgenden mal leicht und rede da von "Mechanik".
Es ist nach meiner Auffassung diese so definierte Mechanik, welche (z.B. über Charakteroptimierung) das herausforderungsorientierte Spiel und das (z.B. über Handlungsmaschinen) auf Weltsimulation getrimmte Spiel vereinigt.
Es ist auch die Mechanik, an der sich die größten Diskussionen zwischen nWoD und oWoD entzünden. Einige Beitragende halten die Verbesserungen des Regelkerns der nWoD für so wesentlich, dass ein Relaunch gerechtfertigt ist, während andere kopfschüttelnd mit der regeltechnisch schlechter gestellten, aber settingtechnisch voll etablierten oWoD weitermachen.
Es ist die Mechanik, welche einige Leute Contests über die Effizienz von Charakteren veranstalten und andere Leute den Kopf darüber schütteln lässt.
Es ist die Mechanik, welche die 4E und die D&DNext („rulings, not rules“) ganz fundamental voneinander trennt.
Es ist die Mechanik, welche einige Leute ihre Charaktere mit großer Freude optimieren und andere für derlei Zeitvertreib dazu wenig erfreuliche Bezeichnungen (Powergamer, Munchkin) finden lässt.
Es ist umgekehrt die (fehlende) Mechanik, welche einige Leute ihre Charaktere auch abseits von Werten und Spielabenden liebevoll ausgestalten und andere für derlei Zeitvertreib dazu wenig erfreuliche Bezeichnungen (Barbiespieler) finden lässt.
Es ist auch die Mechanik, welche einige Leute mit Begeisterung einen Partipationismus inklusive aller Konsequenzen (Railroading, Dramaturgie, Rule of Cool etc.) praktizieren lässt, der in anderen die blanke Abscheu vor so wenig „Spiel im Spiel“ entstehen lässt.
Es ist die Mechanik, welche einige Beitragende eine generelle Abbildbarkeit von NSC durch die Regeln fordern lässt, während andere Leute das mit Kopfschütteln quittieren, weil dadurch einer Spielwelt womöglich der mystische Reiz abhandenkommt.
Und so weiter.
Kurzum: es ist die Mechanik, welche viele der fundamentalen Fragen rund um Rollenspiele entscheidend beeinflusst.
Es ist somit auch die Mechanik, welche viele der maßgeblichsten Unterschiede von Spielern und Spielrunden erklärlich macht. Die Mechanik ist quasi ein Maßstab zum Verständnis und Verhältnis der beiden Komponenten unseres Hobbies: des (üblicher Weise qualitativ orientierten) Agierens in einer Rolle (roleplaying) und des (üblicher Weise quantitativ verregelten) spielerischen Anteils (game).
Der typische Rollenspieler wird durchaus an beiden Komponenten Spaß haben, weil er sich sonst vermutlich schlicht für ein anderes Hobby begeistern würde. Zu wichtig sind beide Komponenten in Rollenspielen, um auf eine davon komplett verzichten zu können. Jedoch können natürlich die Ausprägungen und Gewichtungen der beiden Facetten über Spieler, Spielrunden und sogar Spielabende innerhalb der gleichen Spielrunde vollkommen unterschiedlich sein.
Sicherlich gibt es auch Spieler, und zu denen zähle ich mich, die keine klar definierten und schon gar nicht zeitstabile Präferenzstrukturen haben. Das könnte sogar gut und gerne die Mehrheit der Rollenspieler umfassen. Diese Leute spielen dann je nach Runde, aktueller Situation und dem jeweiligen System gerne unterschiedliche Mischungen aus dem Agieren in einer Rolle und den spielerisch verregelten Teilen.
2. Der Satz ist ganz grundsätzlich richtig.Ich halte den Satz für richtig, weil es sich bei Mechanik zwar um eine für Rollenspiele sehr wesentliche Komponente handelt. Ohne Mechanik bleibt nur freies Agieren in einer Rolle übrig. Das ist Improtheater. Ohne freies Agieren in einer Rolle bleibt hingegen die Verregelung von Aktionen übrig. Das sind reine Brettspiele. Nur die parallele Existenz beider Komponenten ist meiner Ansicht nach konstitutiv für Rollenspiele. So definiert sind dann übrigens auch Erzählspiele klarer Weise Rollenspiele. Und so Klamotten wie die Werwölfe aus dem Düsterwald. Oder Räuber und Gendarm. Etc. Finde ich in Ordnung. Darum gehts mir an dieser Stelle aber nicht in erster Linie. **
Und was hat das alles nun mit dem Anspruch und Kunstbegriff eines Rollenspiels zu tun?Die Mechanik erklärt, wie spezifisch beziehungsweise ganzheitlich die Rollenspieler einer Runde beansprucht werden. In Runden mit hoher Mechanik sind vor allem logisch-mathematische Fähigkeiten gefragt. Es geht um das Erkennen von Mustern, um die Entwicklung und Umsetzung von Taktiken, um die strategische Ausrichtung des Charakters, um die abstrakte Erfassung von Beziehungen zwischen Stakeholdern etc. Das kann alle Beteiligten beliebig fordern und geht von einer typischen Bier&Bretzel-Runde mit viel Alkohol und deren mehr oder weniger zielorientierten Würfeleien bis hin zu maximal ausgefuchsten und anforderungsintensiven Runden höchster Ambition.
In Runden mit geringer Mechanik werden die Beteiligten auch abseits der logisch-mathematischen Fähigkeiten gefordert. Dennoch besteht je nach Ambition der Gruppe womöglich eine höhere Belastung der Beteiligten. Denn eine solche Runde benötigt einerseits logisch-mathematischen Fähigkeiten, welche für das Erfassen von Situationen unerlässlich ist. Das geschieht vermutlich in einem geringeren Ausmaß als in Gruppen mit hoher Mechanik. Hinzu kommen im Falle von geringer Mechanik jedoch erheblich stärkere Anforderungen an sprachlich-linguistische, körperlich-kinästhetische, interpersonale und auch intrapersonale Aspekte der Intelligenz.
Dadurch ist meiner Ansicht nach die Auffassung begründbar, dass in Runden mit geringer Mechanik durchaus ein höherer Anspruch im Sinne einer ganzheitlicheren Belastung der Beteiligten einhergehen kann. Auch kann in Runden mit enorm geringer Mechanik durchaus einmal etwas entstehen, was die Beteiligten als „Kunst“ auffassen. Das wiederum lässt sich in Runden mit hoher Mechanik schwerlich nachvollziehen.***
Soweit erst mal meine Gedanken. Muss gleich los, deshalb ist das alles noch etwas ungeordnet. Bin gespannt auf Eure Kommentare, werde aber nur sehr wenig dazu kommen, den Thread zu moderieren oder inhaltlich zu begleiten.
Wichtig ist mir, dass eine konstruktive, inhaltlich geführte Diskussion zustandekommt. Das ist angesichts des Themas und seiner Implikationen geboten. Bitte haltet Euch daran. Herzlichen Dank.
Und nun viel Spaß beim Diskutieren. Ich bin gespannt auf Eure Gedanken.
*: Das Zitat stammt von Archoangel und das gibts ausnahmsweise mal ohne Link, weil mir der Rest des zugehörigen Posts für diese Diskussion vollkommen unerheblich erscheint und deshalb vom eigentlichen Thema ablenkt.
**: Bittebittebitte: lasst Euch nicht zu Definitionskriegen hinreißen. Dazu ist dieser Thread explizit NICHT da. Insbesondere möchte ich keine Abhandlung darüber lesen, weshalb Indiespiel XYZ mit Auflage 10 doch irgendwie aus dieser Systematik ausbricht. Es geht mir in diesem Thread um den großen Pinselstrich. Herzlichen Dank :-)
***: Nur um sicherzugehen: Lässt sich daraus direkt oder indirekt eine Überlegenheit eines bestimmten Spielstils ableiten? Natürlich nicht.