Als einer derjenigen, die recht rabiat die These vertreten, dass die Qualität des Regelwerks nichts oder nur wenig mit dem kommerziellen Erfolg oder der Verbreitung zu tun hat, erläutere ich meine Ansichten noch mal genauer. Ich möchte dabei allerdings anmerken, dass ich es als sehr unglücklich ansehe, dass der Themenstarter nicht genau erläutert hat, was er unter einem schlechten Spiel versteht. Ich gehe im Folgenden zunächst davon aus, dass als Qualität der Spielspaß einer (jeder) individuellen Runde her hält und System nicht als die gedruckten, sondern die tatsächlich am Tisch verwendeten Regeln gelten.
Unter diesen Voraussetzungen unterstütze ich die hier im Thread schon mehrfach geäußerte These, dass schlechte Systeme nur höchst selten zum Einsatz kommen. Es mag einige weit verbreitete Systeme geben, die by the book nach objektiven Kriterien Schrott sind (DSA 4 und oWoD sind da die offensichtlichen Kandidaten, auf die ich später in anderem Zusammenhang eingehen möchte). Die werden aber kaum by the book verwendet. Üblicherweise findet hier eine mehr oder minder starke Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse der Gruppe statt, so dass am Ende ein gutes oder zumindest brauchbares System heraus kommt.
Interessanter ist die Frage, wieso sich by the book schlechte Systeme potenziell gut verkaufen. Und genau da lohnt dann ein Blick auf die beiden vorgenannten Spiele. De Gründe für den Erfolg von DSA 4 sind allerdings aus meiner Sicht allerdings andere als die für den Erfolg von Vampire (der der Kern des Erfolgs der oWoD ist).
Schaut man sich an, in welcher Zeit sich DSA zu einem marktbeherrschenden Produkt entwickelt hat, stellt man fest, dass es sich um genau die Zeit handelt, in der der Rollenspielmarkt selbst in starkem Wachstum begriffen war. In dieser Situation war Einsteigerfreundlichkeit ein wichtiges Kriterium, das DSA 1 voll erfüllt hat. Das hat es im Übrigen mit der DnD Red Box gemein. Allerdings ist das nicht der einzige Punkt, den die beiden Spiele gemeinsam haben. Bei Schmidt Spiele und bei TSR hatte man den Mut, den wachsenden Markt mit Material für den Spielwaren-Fachhandel zu bedienen und die Sichtbarkeit der eigenen Produkte massiv zu erweitern. Gleichzeitig wurden die Spiele in großem Maß als Jugendspiele mit Erwachsenenanleitung vermarktet, DSA 1 deutlich mehr als DnD. Ergänzend kam hinzu, dass die mit dem Rollenspiel verbundenen emotionalen Erlebnisse sehr gut geeignet sind, eine hohe emotionale Bindung von Kunden an die Marke zu gewährleisten. Das wurde dadurch unterstützt, dass die vorhandenen Kunden in den 90ern, als der Markt weitgehend ausgelastet war, mit Folgeeditionen und Supplements weiter an die eigene Marke gebunden wurden. wenn man vor der Wahl steht, sein Geld zum Erweitern des vorhandenen, bekannten, geliebten Spiels oder in ein neues, unbekanntes Spiel zu investieren, bleibt man in den allermeisten Fällen bei dem Produkt, das man schon hat.
Für DSA und DnD sind also meines Erachtens die Einsteigerfreundlichkeit der 80er Inkarnationen (durchaus ein Qualitätskriterium), der Mut zum Massenprodukt sowie die Kundenbindung durch Folgeprodukte die Erfolgsfaktoren. Diese tragen die beiden Systeme bis heute durch alle Inkarnationen, die vor allem bei DSA im Grunde immer schlechter wurden. Das interessiert aber keinen. Die emotionale Bindung an Marke und Spielgefühl ist wesentlich stärker als die rationale Ablehnung der Mechanik.
So weit zu DSA (DnD taugt meines Erachtens in keiner Edition als Beispiel für schlechte Regeln. Die Editionen sind alle by the book spielbar, ohne dass man Ausschlag kriegt). Den Erfolg von Vampire erklärt das nicht. Der ergibt sich meines Erachtens daraus, dass das Spiel eines der ersten war, die den Storytelling-Trend, der in den 80ern entstand, nach eigener Aussage voll bedienten und sogar regeltechnisch unterstützten. Dass die Regeln nicht funktionierten und das Spiel zwar Interview mit einem Vampir versprach, aber Queen of the Damned lieferte, steht auf einem anderen Blatt. Alleine einen solchen Ansatz zu versuchen, war erst mal innovativ. Das allein hätte für den Erfolg aber nicht ausgereicht. Das entscheidende Kriterium war meines Erachtens, dass Vampire das richtige Thema zur richtigen Zeit bedient hat. Im Sog des Erfolgs von Anne Rice und Bram Stokers Dracula, die Vampire als tragische Figuren darstellten und den düster-romantischen Zeitgeist trafen, ist Vampire mit nach oben geschwemmt worden. Vampire Romance ist ja, man will es kaum glauben, keine Erfindung dieses Jahrtausends, auch wenn dank Twilight alles noch viel schlimmer geworden ist.
Themen und Settings sind meines Erachtens seit Mitte der 90er, seit die Marketingstrategien, die DnD und DSA groß gemacht haben, nicht mehr greifen, die Erfolgsfaktoren für Rollenspiele. Pathfinder mag da die Ausnahme sein, aber Pathfinder kannibalisiert effektiv die Marke DnD und hat es geschafft, deren Branding für sich zu nutzen. Eine massentauglichere 4E, und Pathfinder würde in der Form nicht existieren.
Um meine These zu untermauern, werfe ich noch einen Blick auf zwei der kommerziell erfolgreichsten Spiele der letzten Jahre, das Dresden Files RPG und Numenera. Schaut man sich an, was den Erfolg dieser Spiele ausmacht, stößt man vor allem auf die Namen Jim Butcher und Monte Cook. Ersterer ist der Autor der beliebten und erfolgreichen Dresden Files-Romane, zweiterer hat sich einen Namen als Autor des hochinnovativen Planescape-Settings gemacht. Mit Rollenspielregeln haben beide nix am Hut. Das Dresdenverse und Cooks Ruf als Settingautor begründen hier den Erfolg. Numenera spielte per Kickstarter sogar bereits Millionen ein, bevor die Regeln überhaupt bekannt waren. Die waren den Käufern völlig egal.
Spielregeln haben einen nicht zu knappen Einfluss auf den Spielspaß einer Rollenspielrunde. Als Kaufkriterium halten sie nur bei den allerwenigsten her. Lieber passt man sich die Regeln an.
Um auf die Ausgangsfrage zurück zu kommen: by the book schlechte Rollenspiele werden gespielt, weil entweder eine hohe emotionale Bindung der Spieler an das Produkt und das beim Spielen erfahrene Spielgefühl existiert oder weil einen Thema und Setting des Spiels derart anmachen, dass man schlechte Regeln in Kauf nimmt und anpasst.