Hier wie versprochen eine Paraphrase des Artikels "Monsters are people too" von Edward E. Simbalist, erschienen in C & S Sourcebook, 1978. Der Artikel verkündet keine großen Geheimnisse. Er plädiert einfach nur dafür, dass der Spielleiter sich genau wie die Spieler auch in seine Charaktere hineinversetzt. Dadurch soll verhindert werden, dass Nichtspielercharaktere einfach nur eine Ansammlung von Kampfwerten sind, die es dann durch die Kampfregeln zu überwinden gilt. Mal abgesehen vom farbigeren Spiel wird auch erwähnt, dass Monster, in dessen Persönlichkeit und Situation sich der Spielleiter hineinversetzt, in der Regel weniger selbstmörderisch agieren dürften, als dies in vielen Fantasykampagnen der Fall sei. Würden Monster hingegen nur als Kampfwerte gesehen, entstehe dadurch auch eine Benachteiligung der Spieler, die sich in die Persönlichkeit ihres Charakters hineinversetzten. Wenn die Spieler für ihre Charaktere kleine Macken und Fehler festlegen, dann sollten Monster nicht hundertprozent funktionierende Kampfmaschinen sein. In dem Artikel werden mehrere Beispiele besprochen. Das zentrale und längste Beispiel ist so großartig, dass ich es weitgehend übersetzen möchte:
Eine Gruppe Abenteurer sitzen um ihr Lagerfeuer herum. Es ist kurz nach Sonnenuntergang, die Charaktere befinden sich in einer Wildnis, bekannt für wilde Tiere, streunende Goblinbanden und ähnliche Kreaturen. Die Gruppe ist aufgrund der mannigfaltigen nächtlichen Geräusche etwas verunsichert. Sie hat am späten Nachmittag ein Reh geschossen, das nun in Form von mehreren köstlichen Stücken Wildbret auf einem Spieß über dem Feuer schmort. Das Fleisch ist knusprig und fast durch. Sein Geruch durchzieht die nächtliche Brise. Während der Koch das Fleisch abschmeckt, warten die anderen Männer erwartungsvoll.
Plötzlich rascheln Büsche, Zweige knacken und aus dem Unterholz stolpert eine Goblinbande. Es sind vielleicht dreimal so viele, wie Abenteurer. Weil die Charaktere ein wenig vorgewarnt waren, springen sie schnell auf die Füße und greifen zu ihren Waffen.
Nun wird erklärt, dass an dieser Stelle normalerweise wohl ein Kampf stattfände. Das läge daran, dass die Gruppe ein Goblin-Klischee vor Augen hat und Monster nur als nichtdenkendes Kanonenfutter angesehen würden. Dann folgt eine alternative Fortsetzung.
Sie beginnt mit der Frage: Was machen die Goblins hier? Vielleicht sind sie eine Patrouille – wie so oft in Rollenspielen. Aber diese hier hat sich vielleicht verlaufen: Die Goblins sind müde, verwirrt und schrecklich hungrig, weil keiner von ihnen vernünftig jagen kann und keiner auch nur ein kleines Waldkaninchen erwischt hat, seit vor drei Tage ihr Proviant zur Neige ging. Seitdem wurden sie von Moskitos gestochen, von Schwärmen schwarzer Fliegen gepeinigt, von Dornen und Disteln zerkratzt, sind inzwischen ganz allgemein kraftlos und haben die Nase voll von ziellosen Wanderungen im Kreis. Jetzt haben sie eine Lichtung erreicht, wo sich leckeres Wildbret über dem Feuer dreht und sieben harte, schwer bewaffnete Jungs sind die Eigentümer dieses Wildbrets. Keiner von denen sieht allzu überrascht oder eingeschüchtert aus.
Klar – die Goblins könnten kämpfen. Aber vielleicht gibt es auch noch einen anderen Weg. Der Spielleiter wird aufgefordert sich in die Lage des Goblinführers zu versetzen: Deine Männer sind erschöpft und geschwächt von Hunger und den Entbehrungen der letzten Tage. Sie sind darüber hinaus demoralisiert, erste respektlose Reden gegenüber Disziplin und deiner Führerrolle waren zu hören. Du selbst bist übrigens auch müde und demoralisiert und wenn du wählen könntest, wäre es dir lieber zu essen als zu kämpfen. Selbst wenn ihr gewinnt, würden einige von euch krepieren. Wenn es dabei keine Beute gibt, mag euer Häuptling das gar nicht. Die Jungs hier sehen gut ausgerüstet aus, aber öffentlich zur Schau gestellter Reichtum ist auch wieder nicht zu sehen. Was sie mit Sicherheit haben, ist dieser leckere Braten am Spieß und die Wichtigkeit dieses Bratens wird dein Häuptling im Nachhinein wohl nicht verstehen.
Frage, Herr Spielleiter: Was tust du als Goblinführer? Und um die Antwort noch etwas schwieriger zu machen, nimm für diesen Moment an, dass der Goblinführer der einzige Nichtspielercharakter ist, den du bis zum Ende des Spielabends zu führen hast. Wenn du ihn verlierst, bist du aus dem Spiel. Als Spielleiter ist das natürlich nie der Fall, aber als Spieler müsstest du mit dieser Konsequenz leben. Bedenke, dass dein Vorgehen im Fall von streng begrenzten Ressourcen anders aussehen könnte, als im Fall von unbegrenztem Vorrat, mit dem du Unsinn anstellen kannst.
Es geht um den Unterschied zwischen Monstern, die Lebewesen sind und Monstern, die eine Bande gesichtsloser und hirnloser Spielwerte sind, mit denen man Würfelwürfe modifizieren kann.
Vielleicht kannst du als Goblinführer ein kleines Geschäft machen. Versuche zuerst mal zu reden, das tut nicht weh. Wenn du Glück hast, bist du hinterher satt und hast einen Kampf vermieden. Wenn deine Leute den Mumm dazu haben, kannst du später immer noch die Menschen verfolgen und in einen Hinterhalt locken. Du kannst die Verhandlungsphase auch dazu nutzen, deine Leute in eine bessere Ausgangssituation für einen Angriff zu bringen. Du wärest ja gar nicht erst in dieser bescheuerten Situation, wenn es Snogg nicht auf dich abgesehen und dir diese elende Mission aufgebrummt hätte. Denke mal darüber nach, deine Jungs haben in den letzten zwei Monaten kein Silberstück gesehen, auch das ist nicht gerade fair.
„Hallo, ihr da! Nicht schießen! Junge, wir sind froh, euch gefunden zu haben! Seit Tagen latschen wir durch diese elenden Scheißhügel und um ehrlich zu sein – wir haben uns irgendwie verlaufen. Kennt ihr vielleicht den Weg zum Donnerberg, hm? Und ist das Reh, was ihr da habt? Riecht gut!“
Jetzt sind die Spieler dran. Die Spieler machen das Spiel, nicht der Spielleiter, und jetzt ist Zeit für Rollenspiel, für Interaktion. Die Goblins können kämpfen, aber es muss nicht so weit kommen, wenn die Spieler schnell begreifen. Es gibt eine starke Alternative, und zwar deshalb, weil der Spielleiter seine eigene Psyche in die seiner Monster versetzt hat. Abhängig von den Spielern und deren Köpfchen ist jetzt alles möglich.
Nehmen wir an, die Spielercharaktere sind misstrauisch und wachsam. Sie nehmen an, eine Prügelei für sich entscheiden zu können, denn bei näherer Betrachtung sehen die Goblins ziemlich heruntergekommen aus. Vielleicht sind ein paar Almosen für die Goblins aber doch die bessere Idee, denn die Abenteurer haben noch einen langen Weg durch feindliches Gebiet und eine wirklich haarsträubende Aufgabe an ihrem Ziel vor sich. Um sich die Sache besser überlegen zu können rücken die Spielercharaktere mit ein paar Stücken Wildbret heraus.
Während die Goblins das Fleisch hinunterschlingen, können die Charaktere hören, wie einer von ihnen zu einem anderen murmelt: „Na, Goraab, endlich ein bisschen Glück! Zuerst der neue Boss und seine idiotischen neuen „verbesserten“ Gesetze, Dann zwei Monate lang keine Bezahlung. Wir hatten einen Monat lang Wachdienst, weil ein paar von den Blödmännern sich unterwegs Bier besorgt haben. Und jetzt diese elende Patrouille. Was ist die Folge? Wir haben uns verirrt. Ich sage dir eines, Goraab, wir sind echte Pechvögel! Wir hätten zuhause im Bett bleiben sollen. Junge, das Reh ist wirklich hervorragend! Frag mich, ob ich noch mehr bekommen kann…“
Es bedarf wirklich stumpfsinniger Spieler, die dieses kleine Gespräch nicht zu ihrem eigenen Nutzen verwenden. Hier sitzen ihre Charaktere neben einer wirklich wütenden Kolonne Goblins, die bereit sind, ihren Job hinzuschmeißen, sobald ihnen jemand ein Angebot macht, dem sie nicht widerstehen können. Sie könnten eine Handvoll Silberstücke bekommen, dazu regelmäßige Mahlzeiten und später vielleicht auch noch etwas Beute.
Nach einem weiteren Beispiel plädiert der Artikel unter anderem für vorbereitete Begegnungen statt Zufallstabellen. Als Leitidee wird formuliert, der Spielleiter solle sich in die Rolle seiner Monster versetzen und überlegen, was er an ihrer Stelle in einer gegebenen Situation täte. Es wird die Frage gestellt, warum sich in einigen Fantasykampagnen die Feinde immer extremen Gefahren aussetzen und bis zum letzten Mann kämpfen. Antwort: Weil der Spielleiter nicht über die Gründe für das Verhalten der Nichtspielercharaktere nachdenkt. Es wird auch erwähnt, dass begründete Handlungen der Nichtspielercharaktere oft nicht durch Regelmechanismen abgedeckt werden und zu einem großen Teil von der persönlichen Einschätzung des Spielleiters abhängen. Wenn ein Spielleiter aber damit anfängt, seine Monster als Lebewesen zu betrachten und bereit ist, in ihre Haut zu schlüpfen und durch ihre Augen zu sehen, dann seien die Ergebnisse lohnend. Der Artikel endet mit der Erwähnung, dass die meisten Monster doch irgendwo eine Achillesferse hätten, eine Schwäche, die Charaktere ausnutzen könnten. Das gelinge aber nur, wenn der Spielleiter seine allwissende Position verlässt und in der Persönlichkeit der Kreatur selbst in die Arena steigt.
An einer Stelle kommt der Autor übrigens noch einmal kurz auf das oben ausgeführte Beispiel zurück und zitiert kurz einen Spielercharakter zu einem etwas späteren Zeitpunkt: „Irgendwas ist schiefgelaufen, Farley. Dieser Goraab scheint ein erfahrener Spieler zu sein. Meinst du, er hat die Würfel heimlich gegen gezinkte ausgetauscht? Nee – dazu wird er zu blöd sein…“.
Insgesamt keine weltbewegenden Erkenntnisse, für 1978 aber doch bemerkenswert, wie ich finde.
Chiarina