Ich will dir nix unterstellen, aber ich vermute mal, du kennst Lovecraft eher aus diesen Sekundärquellen. Les mal die Originalstories. DIe sind nicht gruselig oder unheimlich wie wir Horror für gewöhnlich kennen, die sind eher was, was ich "Akademischen Horror" nennen würde. Das kann man schwer beschreiben. Edit: Ich lese gerade, Lovecraft hat taätsächlich recht klassische Horrorgeschichten geschrieben, die kenne ich selber nicht. Das waren anscheinend frühe Werke im Stile von Poe. Wobei Poe jetzt auch wieder nicht klassischer Horror im heutigen Sinne ist. Muss ich auf jeden Fall mal lesen.
Da vermutest du falsch, ich habe erst vor einem halben Jahr zum wiederholten Mal und mit Vergnügen die dreibändige Penguin-Ausgabe von Joshi gelesen, worin nur wenige Mythosgeschichten fehlen.
Ich weiß nicht, auf was für Geschichten du dich jetzt konkret beziehst, aber das meiste würde ich als Horror einstufen: Alle Katzen der Stadt rotten sich zusammen und fressen Menschen. Außerirdische entnehmen menschliche Gehirne und halten sie künstlich am Leben. An Bord eines Uboots treibt eine Statuette die Besatzung in mörderischen Wahnsinn. Die Frau des besten Freundes ergreift gegen seinen Willen Besitz von dessen Körper. Ein hundert Jahre toter Nekromant verführt seinen jungen Nachfahren, ihn wiederzubeleben, ermordet ihn dann und nimmt seinen Platz ein. Zwei Männer gehen in einem Spukhaus auf Vampirjagd. Ein Student dringt zu tief in die Geheimnisse der Mathematik ein und gerät in die Fänge eines Hexenkults. Ein Horrorkünstler hat ein echtes Monster als Vorlage für seine Arbeit im Keller. Die Bewohner einer entlegenen Stadt haben alle einen Pakt mit unmenschlichen Wesen geschlossen und sind inzwischen selbst kaum mehr menschlich.
Das könnte meiner Meinung nach auch alles von Stephen King, John Carpenter, Clive Barker, George Romero, Wes Craven oder anderen Genregrößen stammen.
Lovecraft hat eine ziemlich gestelzte Schreibe, was ihn heute etwas schwerer zugänglich macht. Aber Poe, M.R. James, Machen, Stoker, Shelley, Le Fanu und andere Autoren haben dasselbe Problem und trotzdem verbindet jedes Kind Dracula und Frankenstein mit dem Horrorgenre. Lovecrafts Geschichten akademisch zu nennen finde ich auch seltsam, da er selbst nie eine Schulbildung genossen hat, seine Werke in Schundheftchen erschienen und längst verschwunden wären, wenn nicht Fans die Geschichten immer wieder nachgedruckt hätten. Als sich die Literaturwissenschaft für den Stoff interessiert und ich habe noch nie gehört, dass Schüler oder Studenten Lovecraft als Lektüre lesen mussten. Dafür gibt es Generationen von Lesern, die Lovecraft zur Unterhaltung konsumiert haben, darunter eine Menge von späteren Horrorautoren.
Wenn Lovecraft kein Horror ist, was bitte soll dann Horror sein?