Als jemand, der der "Fraktion" angehört, die den narrative permissions von Aspekten einen extrem hohen Stellenwert einräumen, versuche ich das mal zu erläutern:
Finally, aspects have a passive use that you can draw on in almost every instance of play. Players, you can use them as a guide to roleplaying your character. This may seem self-evident, but it should be called out anyway—the aspects on your character sheet are true of your character at all times, not just when they’re invoked or compelled.
Du schreibst, dass sich das "nur auf das Rollenspiel" bezieht. In anderen Systemen mag "Mechanik vs. Rollenspiel" eine wichtige Distinktion sein – es gibt Dinge, die mechanisch abgewickelt werden, und es gibt Dinge, die "nur ausgespielt" werden.
Fate funktioniert nicht so. In Fate ist "das Rollenspiel" ein ganz, ganz essentieller Teil des gesamten Systems, weil es
fiction first funktioniert. Die
Golden Rule und
Silver Rule sind EXTREM wichtig. Das Rollenspiel ist die Grundlage von allem – es liefert den Kontext, in dem die Spielmechanik angewandt wird. "Decide what you’re trying to accomplish first, then consult the rules to help you do it. [...] Never let the rules get in the way of what makes narrative sense."
Wenn etwas "für das Rollenspiel" wahr ist, muss sich die Spielmechanik also danach richten.
Das folgende Zitat ist zwar aus Fate Accelerated, aber da FAE ja kein "anderes Spiel" ist, sondern ein Teil des "Fate Core-Kontinuums" (das hat auch Fred Hicks immer wieder betont), zitiere ich es auch in diesem Kontext recht gerne:
Your character’s own aspects provide a good guide for what you can do. If you have an aspect that suggests you can perform magic, then cast that spell. If your aspects describe you as a swordsman, draw that blade and have at it. These story details don’t have additional mechanical impact. You don’t get a bonus from your magic or your sword, unless you choose to spend a fate point to invoke an appropriate aspect. Often, the ability to use an aspect to make something true in the story is bonus enough!
Sprich, wenn du ein "Preisgekrönter Leichtathlet" bist, werde ich es dir wahrscheinlich erlauben, den am Fahrrad flüchtenden Verbrecher zu verfolgen, weil hey, du bist verdammt nochmal ein preisgekrönter Leichtathlet. Klar, wenn der radelnde Flüchtling keine totale Lusche ist (sprich, es den Aufwand wert ist) wirst du drauf würfeln müssen, aber hey, du hast immerhin eine Chance! Einen "Behäbigen Wachmann mit chronischer Donut-Sucht" hingegen würde ich hingegen nicht mal würfeln lassen, denn es macht erzählerisch einfach keinen Sinn, dass er den Radfahrer zu Fuß erwischen könnte (er könnte sich aber natürlich selbst auf einen fahrbaren Untersatz schwingen, oder versuchen, den Kerl vom Rad schießen).
Ich werde ihm wahrscheinlich auch einen Compel anbieten, das ist aber kein Muss. Das eine ist die Ebene der "narrative permissions" ("du bist echt träge, also macht es einfach keinen Sinn, dass du den Radfahrer zu Fuß verfolgst"), der Compel basiert zwar auf dieser Ebene, hat aber immer auch eine klare Konsequenz (z.B. "du bist zu träge, um den Kerl zu verfolgen...das geht schief, als er deshalb diese Nacht ein weiteres Opfer finden kann!")
Ebenso wenn du beispielsweise ein, sagen wir mal, "Gefürchteter Krieger der Draconier" bist, und in deinem Setting diese Draconier Drachen-Mensch-Hybriden sind, die fliegen können. Du bist ein Draconier, und die können in diesem Setting fliegen, also macht es einfach Sinn, dass auch du das kannst. Ihr werdet von Riesenadlern angegriffen? Andere Charaktere könnten natürlich probieren, sie vom Himmel zu schießen, aber wenn der "Siebenmalige Sieger des Großen Königlichen Turniers" mir sagt, er tjostet hoch zu Ross die Adler nieder, brauche ich nicht lange nachzudenken (es sei denn, er reitet einen Pegasus). Wenn aber der "Gefürchtete Krieger der Draconier" mir sagt, er fliegt mit eingelegter Lanze den Adlern entgegen, um sie im Zweikampf zu besiegen, sag' ich "klar, würfel nen Angriff auf Fight".
In Fate, aspects do two major things: they tell you what’s important about the game, and they help you decide when to use the mechanics.
Das bedeutet nicht nur, ob Würfe "sehr schwer oder sehr leicht" sind – es bestimmt, ob es überhaupt notwendig ist, die Würfel in die Hand zu nehmen. Wenn der "common sense" sagt, dass etwas problemlos gelingen sollte, brauchst du keinerlei Mechanik – say yes and move on. Falls eine Aktion einfach keinen Sinn macht (für den Charakter in der aktuellen Situation unmöglich zu schaffen o. Ä.) ebenso.
"Balancing" in Fate wird nicht primär über die Regelmechaniken abgewickelt, auch wenn das erst mal furchtbar ungewohnt ist, wenn man andere Systeme gewohnt ist. "Balancing" in Fate ist eine Sache des Gruppenkonsenses.
Klar, nichts in den Spielmechaniken hält mich davon ab, einen Charakter zu erschaffen, der einen Aspekt wie "Städtevernichteter Riesen-Drache" hat. Aspekte sind narrativ "wahr", und rein theoretisch könnte der Spieler nun behaupten: "Hey, ich bin ein Riesen-Drache, wieso soll ich mit dem Baron überhaupt verhandeln, ich schmelze einfach seine Burg bis auf's Fundament nieder!"
Ich sage bewusst "rein theoretisch". Denn in der Praxis werden ihm wohl spätestens dann seine Mitspieler auf den Hinterkopf hauen und ihm sagen "Kumpel, der Charakter passt vorn und hinten nicht in unsere Kampagne, überleg' dir was anderes!"
In Fate ist es EXTREM wichtig, VOR der Charaktererschaffung darüber zu sprechen, welches a) Genre, b) Setting, c) Power-Level die Gruppe spielen will. Ihr wollt heroische Fantasy in einem hochmagischen Setting und mythischen Charakteren spielen? Klar, kein Problem, du spielst deinen "Städtevernichtenden Riesen-Drachen", ich spiele einen "Gefallenen Rache-Engel", der dritte einen "Halbgott mit Liebe zu den Menschen" oder so. Ihr wollt Noir-Detektivgeschichten in einer leicht magischen Version unserer 90er-Jahre spielen? Dann wird es wohl eher ein "Telepathischer Privatdetektiv" oder eine "Femme Fatale mit Feenblut".
Dazu "zwingen" mich nicht "die Regeln", sondern der Gruppenkonsens. Charakter- und Welt-/Spielerschaffung sind in Fate aus gutem Grund fest miteinander verwoben: "You can make player characters after finishing game creation, or you can do it in the middle of this process—follow your instincts here." Auf gar keinen Fall werden die Charaktere völlig losgelöst davon erstellt, quasi "im leeren Raum" denn das führt schnell zu absurden Situationen. Ich hab meinen antiken Halbgott, du einen traumatisierten Vietnamkriegs-Soldaten, und ein anderer einen Pokémon-Trainer