#106: Zeilen, die den Tod bedeutenAutor: Nicolai Hoch (mit "Beiträgen von Jeanette Marsteller", was auch immer das bedeutet)
System: DSA
Erschienen: 2018
Umfang: mittel (ca. 10-12 Stunden Spielzeit)
Warum habe ich das AB gelesen?Weil es der Beschreibung nach ziemlich gut für meine "Wilde See"-Gruppe passen könnte.
PlotDie "Rapiro Floretti"-Romane (aventurische Groschenheftchen) sind gerade ziemlich populär. Doch dann beginnt jemand, Todesfälle aus den Geschichten als Vorlage für echte Morde zu nehmen. Und natürlich fällt der Verdacht schnell auf den Autor...
EindruckSo lala.
Mein Hauptproblem mit dem Abenteuer ist, dass ich die Motivation des Mörders überhaupt nicht überzeugend fand. Bisher geistig völlig normale Leute bringen nach meiner Erfahrung nicht plötzlich einen Unbeteiligten nach dem anderen kaltblütig und von hinten um, nur weil sie sich über jemanden geärgert haben. Entsprechend schwer wird es für die SC auch, den Fall allein anhand der Indizien zu knacken - im Grunde müssen sie darauf warten, bis ihnen der Täter quasi den Beweis seiner Schuld auf dem Silbertablett serviert (und auch hier habe ich nicht mal näherungsweise verstanden, warum er das tut - für mich wirkt die betreffende Aktion völlig unsinnig).
An einer anderen Stelle sagt mir mein Bauchgefühl, dass viele Abenteuergruppen bei der Untersuchung des ersten Mordes schnell dazu übergehen dürften, die gesamte Kurtisanenschule, in der der Mord geschehen ist, auf den Kopf zu stellen. Das ist unglücklich, weil es zu nichts führt und weil die Schule im Abenteuer auch gar nicht ausgearbeitet ist. Es ist aber die logischste Aktion in Anbetracht der Beweislage. Schwierig.
Gefehlt hat mir eine Aussage, was am Ende eigentlich mit dem Täter geschieht (was machen die in Belhanka denn mit Mördern?) oder auch nur, wie er auf die Verhaftung reagiert. Er versucht auch nicht, zu fliehen oder die SC umzubringen oder sonst etwas. Er wird halt überführt, bettelt noch kurz um Gnade (nach irgendwas zwischen 3 und 5 kaltblütigen Morden, ja klar). Einen Abenteuerhöhepunkt dürfte die Enthüllung des Täters somit kaum darstellen.
Etwas seltsam fand ich übrigens auch die Reaktion der Umwelt auf die Morde. So zucken die beiden Männer, die gerade in das erste Mordopfer verliebt sind, bei der Nachricht einfach mit den Schultern und murmeln was in der Art von "naja, schade". Und auch sonst geht das Leben meist ziemlich schnell weiter - lediglich der Bruder des dritten Mordopfers macht klar, dass er die Gerechtigkeit in die eigene Hand nehmen will. Immerhin etwas.
Dabei ist es jetzt nicht so, dass das Abenteuer unspielbar wäre. Wenn ich es leiten würde, würde ich aber einiges umschreiben, damit die Geschichte aus meiner Sicht logischer wird. Ansonsten ist die Grundidee aber sehr nett, und das Abenteuer passt wirklich blendend nach Belhanka. Besonders gut funktioniert es wahrscheinlich mit Gruppen, die bereit sind, sich den Freuden der Serenissima trotz der laufenden Ermittlungen hinzugeben und wo zumindest einige Spieler einem erotischen Stelldichein oder gar einer Liebesgeschichte nicht abgeneigt sind. Und umgekehrt könnte das Abenteuer mit der klassischen Abenteuergruppe, die sich ausschließlich aufs Problemlösen konzentriert und eventuelle Anmachversuche wahlweise überflüssig oder peinlich findet, ziemlich öde verlaufen oder sogar ganz scheitern. Hier kommt es also wirklich auf die Spieler und ihre Vorlieben an: das Abenteuer kann ohne einen einzigen Kampf gelöst werden und ist definitiv eher was für Charakterspieler.
Richtig gut gefallen haben mir übrigens die In-Game-Texte aus den "Rapiro Floretti"-Romanen. Aus ca. einem Dutzend Textstellen bekommt man ein wirklich tolles Gefühl für den Stil dieser Groschenheftchen, und ich musste mehrfach herzlich lachen, wenn Rapiro in den unsinnigsten Situationen (beispielsweise in Anbetracht eines Großbrands) nach seiner treuen Klinge greift und somit eine fantastische Karikatur dessen abgibt, wie wir zu DSA1-Zeiten Helden gespielt haben.
Abschließend noch zwei Anmerkungen zum Thema "sexuelle Inhalte":
Einige Mitforisten haben sich ja bereits ausgiebig über das Titelbild aufgeregt, das ich euch hier nicht vorenthalten will, obwohl es sich auf ein anderes Abenteuer der Anthologie bezieht:
Ich selbst habe grundsätzlich mit solchen Covern kein echtes Problem (zumal es eine reale Szene aus dem betreffenden Abenteuer zeigt). Natürlich ist es zu pubertär für den Wohnzimmertisch, aber das sind die sonst im Rollenspiel üblichen Gewalt-, Dämonen- und Untotendarstellungen ja auch. Mich stört eher, dass hier - wie auch im Abenteuerband selbst - Sachen wie Nylonstrümpfe oder Spitzen-BHS zu sehen sind, die nach meinem Verständnis in Aventurien aus technischen Gründen gar nicht existieren dürften. Wirklich befremdlich finde ich aber, dass man (wohl im Kielwasser von "Wege der Vereinigung", das ich nicht besitze) jetzt für jeden halbwegs geschlechtsreifen NSC Angaben zu Penis-, Vagina- und Körbchengröße, ja manchmal sogar zur Form der Intimrasur findet. Klar, muss man nicht benutzen, aber das lässt mich schon ein wenig peinlich berührt zurück. Ich habe jedenfalls in 35 Jahren als Rollenspieler noch nie erlebt, dass jemand beim Ausspielen eines Techtelmechtels wissen wollte, wie groß jetzt die Muschi der fraglichen Dame sei (ja, offen gestanden habe ich diese Frage selbst im echten Leben noch nie gehört)...