Entschuldigt bitte zuerst einmal gleich die Länge dieses Posts...
Also ich finde es ja in erster Linie mal spannend, von welchen Annahmen die verschiedenen Meinungen hier ausgehen.
Da gibt es:
Der SL dreht die Würfel / dreht die Würfel nicht
Der SL befolgt die Regeln / befolgt die Regeln nicht
usw.
Ich denke man kann sich da in unendlichen Unterscheidungen verfangen und weiss am Ende wahrscheinlich selbst nicht mehr so recht, was jetzt eigentlich Sache ist.
Macht man aber einen Schritt zurück und betrachtet das Ganze mit etwas mehr Abstand, scheint es mir einfach eine Frage des Blickwinkels auf unser schönes Hobby zu sein:
Wie und mit wem spielen wir welche Ausformung von Rollenspiel?Die Antwort auf diese Frage führt für jede Spielgruppe zu einer ganz individuellen Lösung, mit der die beteiligten Spieler und SL mehr oder weniger zufrieden sind.
Wie sie diese Zufriedenheit/Unzufriedenheit über das
"wie, mit wem, in welcher Form" herstellen, ist "lediglich" eine Frage des Gruppenkonsenses.
Die von den verschiedenen Seiten hier vorgebrachten Argumente pro und contra Würfeldrehen resp. Railroading sind meines Erachtens zum grossen Teil Scheinargumente, die einer objektiven Betrachtung kaum standhalten, worauf ich gleich noch zurückkomme.
Vorab: Die Treadstarter-Frage, ob
"railroading schlimmer als Würfeldrehen" ist resp.
"Ist es weniger schlimm, sich den vordefinierten Regeln auszusetzen, als den vordefinierten Ideen des Spielleiters/Abenteuers", ist eine Frage, die zu keinerlei brauchbaren Aussagen führen wird. Denn jeder, der die Frage beantwortet, macht dies mit Blick auf seine eigene Gruppe oder die verschiedenen Gruppen, die er bisher gehabt hat (als Spieler oder SL). Es gibt kein objektives "gut" oder "schlecht" bezüglich Würfeldrehen und Railroding, sondern nur den subjektiven Eindruck und Geschmack jedes Angefragten im Hinblick auf seine eigenen Erfahrungen. Also kann es auch kein objektives "schlimmer als" geben. Und selbst wenn nun durch Übereinstimmung der subjektiven Eindrücke ein "Trend" für die eine oder andere Richtung erkennbar sein sollte, kann das im allerhöchsten Fall etwas darüber aussagen, ob ich / meine Spielgruppe dem allgemeinen Trend folgt oder eben nicht.
Diese Aussage verliert aber sofort wieder jegliche Bedeutung angesichts der eigentlichen Frage: Habe ich / hat meine Gruppe mit dem getroffenen Gruppenkonsens bezüglich der Art, wie wir Rollenspiel betreiben, ein gutes Gefühl und Spass bei der Sache? Wenn ja, ist alles gut und der "Trend" kann einem getrost gleichgültig sein. Wenn nein, dann bedeutet dies aber gleichfalls nicht, dass eine Anpassung an den Trend gleichzusetzen wäre mit einer Lösung und sich dadurch einstellender Zufriedenheit. Vielmehr deutet eine länger andauernde Unzufriedenheit mit dem Gruppenkonsens (ich meine das in Abgrenzung zu kleinen Dingen) eben einen entstandenen Gruppendissens. In diesem Fall sollten die Rahmenbedingungen des Spiels - "wie, mit wem, welche Form" - den Veränderungen angepasst werden, worauf man sich dann entweder auf der angepassten Basis wieder Zufriedenheit einstellt oder eine neue Gruppe gefunden werden muss, die den eigenen Vorstellungen vom Spiel besser entspricht.
Zu den Scheinargumenten bezüglich Würfeldrehen und Railroding: Wenn ich mir hier und in anderen Threads Eure Beschreibungen von Spielsituationen und -erlebnissen mit Spielern und Spielleitern durchlese, überkommt mich ja manchmal schon ein kalter Schauer. Was tut Ihr Euch da zum Teil an?
Nun aber: Ich glaube, es geht bei der Diskussion Würfeldrehen / Railroading auch wieder um eine Frage der Betrachtung des Spiels als Solches.
Ginge man davon aus, dass es "das objektive Spiel" gibt, also ein von Spielern und SL losgelöstes Spiel, das nach "unverrückbaren", quasi "göttlichen" Regeln vorgegeben ist, ja dann kann man sich die Frage nach Railroading und Würfeldrehen stellen. Damit sagt man dann aber auch gleichzeitig, dass der Regelerschaffer unfehlbar und quasi göttlich ist… das halte ich in vielen Situationen für… nun ja, eher ein bisschen hochgegriffen.
Vergleicht das Ganze mal mit Gesetzen, z.B. im Steuerrecht, Eherecht, Arbeitsrecht, Sozialversicherungsrecht usw. (ja, ich bin Jurist
). Glaubt Ihr wirklich, die vom Gesetzgeber aufgestellten Regeln seien unverrückbar, quasi gottgleich gegeben und damit natürlich auch von einer unfehlbaren Instanz erschaffen? Ehrlich?? Ich lebe zwar in der Schweiz und nicht in Deutschland, aber ich würde NIENIENIE auf die Idee kommen, den deutschen oder den schweizerischen Gesetzgeber und natürlich auch seine Gesetze auch nur im Ansatz als unfehlbar zu bezeichnen. Das zeigen bei uns ja nur schon das Referendumsrecht, mit dem beschlossene Gesetze durch eine Abstimmung doch noch gekippt werden können.
So, der Rollenspielregelhersteller soll nun aber bei der Erschaffung der Regeln unfehlbar sein? Das würde u.a. bedeuten, dass er für jede nur erdenkliche Situation eine Regel (auch ein bewusstes Schweigen kann natürlich eine Regel sein) erdacht hat, die nun unbesehen der möglichen Folgen angewendet werden muss? Das gibt's auch im wirklichen Leben nicht, da selbst der Gesetzgeber sich nicht für unfehlbar und auf jede erdenkliche Situation vorbereitet erachtet. Was macht er also? Er gibt dem Richter ein ERMESSEN, das heisst, er gibt ihm in vielen Situationen die Möglichkeit, in einem gewissen Rahmen seine subjektive Sicht der Dinge einfliessen zu lassen, um in einem individuellen Fall eine von der Allgemeinheit möglichst breit akzeptierte Lösung herbeizuführen. Erst die Ermessensüberschreitung, die WILLKÜR, führt dazu, dass ein Entscheid diesbezüglich umgestossen werden kann (das ist juristisch jetzt natürlich sehr stark verkürzt).
Umgesetzt auf das Rollenspiel heisst das also in etwa: Weil ein Spiel kaum Regeln für jede Situation bereit hat, kommt dem SL ein Ermessen zu, das er nach bestem Wissen und Gewissen anzuwenden hat, im Hinblick auf eine möglichst grosse Akzeptanz in der gesamten Spielrunde. Dabei lässt sich die Akzeptanz am besten erreichen, wenn die Lösung den Gruppenkonsens nachlebt.
Wenn aber der SL willkürlich entscheiden sollte, also sein Ermessen so weit über- oder unterschreitet (auch das sture Anwenden einer Regel, wo sie eigentlich gar nicht anwendbar wäre, könnte darunter fallen), dass die Entscheidung als offensichtlich unhaltbar und ohne jeden sachlichen Grund erscheint, dann müsst Ihr Euch einfach die Frage stellen: Ist dieses Verhalten des SL vom Gruppenkonsens abgedeckt? Also z.B.: Will ich mit einem willkürlich handelnden SL spielen?
Jetzt zum
"Aber es gibt doch klare Regeln, bei denen es gar kein Ermessen des SL gibt. Da darf weder der Würfel gedreht noch Schienen gelegt werden"-Argument, welches sehr gerne auch in Zusammenhang mit Kaufabenteuern gebracht wird.
Häufig wird dieses Argument ja verknüpft mit einem "Da steht im Kaufabenteuer, dass das Erklimmen dieser Wand eine schwere Prüfung -5 ist." oder "Der Orkanführer hat Stufe 5 und einen OB von +95"… oder Ähnliches. Natürlich geht's auch ohne Kaufabenteuer, dann eben so (natürlich als nicht ausgesprochener Gedanke des SL): "Ich als SL habe die das Erklimmen dieser Wand auf schwer -5 festgelegt." resp. "Der Orkanführer ist ein Anführer und hat drum Stufe 5 und einen OB von +95".
Wer glaubt, dass hier kein Ermessen im weiteren Sinn vorliegt, der irrt. Denn natürlich hat der Erschaffer des (Kauf-)Abenteuers bei der Festlegung der Situation sein Ermessen ausgeübt. Er hat nach seinem Ermessen festgelegt, dass die Wand schwer zu erklimmen ist und dafür einen Abzug von -5 vorgesehen. Er hat festgelegt, dass der Orkanführer als Anführer Stufe 5 und einen OB von +95 hat. Und wenn der SL auf das Kaufabenteuer verweist, dann unterstellt er sich einfach dem Ermessen des Abenteuerschreiberlings, der sich allenfalls wiederum dem Ermessen des Regelerschaffers unterstellt. Es bleibt also bei einem Ermessen.
Nun hat der Abenteuerersteller ja aber nicht jede Gruppe vor Augen, die sein Abenteuer durchleben wird. Er kann also gar nicht wissen, ob eine spezielle, nämlich eure individuelle Gruppe geeignet ist, dieses Abenteuer mit diesen Werten zu bestehen. Meist hat man bei Kaufabenteuern ja einen Hinweis wie "für Gruppen der Stufe x bis y geeignet", wobei dem Schreiber da weder klar ist, wie gross diese Gruppe ist, noch was ihre individuellen Fähigkeiten sind. Er kann nur eine ungefähre Annahme treffen und sagen "Also wenn die Abenteurer die Werte x und y haben, dann sollte ihnen das Abenteuer mit etwa z% Wahrscheinlichkeit gelingen." (Des Weiteren stellt sich dann noch die Frage, ob der Abenteuererschaffer überhaupt im Sinn hat, eine Aufgabe zu stellen, die von den Spieler resp. ihren Charaktern geschafft werden kann, und wenn ja, unter welchem Einsatz).
Damit bleibt es am jeweiligen individuellen Gruppen-SL, sich die Frage für seine Gruppe zu stellen: Sollen sie die Herausforderung, die ich ihnen mit dieser (selbst erfundenen oder gekauften) Geschichte stelle, bewerkstelligen können? Und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen/mit welchen Verlusten usw.? Da lässt er dann eben wieder sein Ermessen spielen, nur eben im Vorfeld des Spiels.
Damit landen wir schliesslich bei der Ante/Post-Frage.
Es geht also eigentlich darum, zu welchem Zeitpunkt der SL sein Ermessen ausübt.
Vorher übt er es grundsätzlich schon mal aus, wenn er die Aufgabe bestimmt und ihr einen Schwierigkeitsgrad beimisst (alleine nur schon zu sagen "die Mauer ist so und so steil - und nicht weniger steil oder steiler - ist ein Ermessen, dem dann allenfalls ein Blick in einer Tabelle folgt, aus der sich eine Modifaktion von -5 ergibt, oder der SL sagt auch ohne Tabelle "-5").
Dann kann er sein Ermessen
auch noch vorher ausüben, wenn er z.B. in einem Kampf festlegt, wieviel seiner Offensivkraft ein Gegner in seine Verteidigung packen möchte oder Ähnliches (je nach System). Auch wen der NSC angreift, ob er angreift, ob er voll angreift oder nicht, um so z.B. eine tödliche Verletzung des Gegenübers, den er noch befragen will, auszuschliessen usw. ist Ermessen. Die Werte, die ein Charakter oder Gegner hat, sind zudem schliesslich lediglich die Maximalwerte, die für eine Aktion zur Verfügung stehen. Stellt Euch vor, Ihr würdet einem Kollegen einen freundschaftlichen Knuff geben und könntet aber immer nur mit voller Wucht zuschlagen, weil ihr halt so einen hohen Zuschlagenwert habt... das würde Euch doch auch komisch vorkommen.
Nachher übt der SL sein Ermessen aus, wenn er das Ergebnis aus Fertigkeitswert und Würfelwurf errechnet (oder das das System da halt vorsieht). Und wenn nach seiner Rechnung die Summe von Fertigkeit +50 und Würfelwurf +25 plötzlich +60, statt +75, ergibt, dann kann man sich fragen, ob der SL jetzt den Würfelwurf von +25 auf +10 gedreht oder ob er sich einfach im Nachhinein gesagt hat, der Angreifer setzt doch nicht seine gesamte Kraft von +50 ein, sondern verwendet nur +35.
Des Weiteren kann es sein, dass das Rechnungsergebnis noch gar nicht das Endergebnis ist, sondern lediglich auf eine Tabelle verweist, die das Ergebnis bekanntgibt. Auch dort besteht je nach Tabelle ein Interpretationsspielraum und -bedarf. Z.B. die kritischen Tabellen bei Rolemaster: was genau bedeutet "Kopftreffer, der Knochen bricht". Welcher Knochen ist gebrochen und muss vom Heiler behandelt werden? Das führt zu Ermessensanwendung nach dem Ergebnis.
Der Kreis schliesst sich nun wieder, wenn wir fragen: Wollen der SL und die Spieler nur ein Vorher-Ermessen oder auch ein Nachher-Ermessen. Wenn sie nur ein Vorher-Ermessen möchten, dann laufen sie Gefahr, dass sich der SL in der Vorbereitung verschätzt hat und es zu willkürlich anmutenden Folgen kommt. Z.B: bringt der SL 30 Orks in der irrigen Annahme, dass die Charakter so eine Gegnerzahl spielend schaffen und auch schaffen sollen. Die Gefahr liegt hier darin, dass der SL das Vorher-Ermessen den Spieler in der Regel nicht kundtut. Täte er das, indem er z.B. sagen würde "Ich plane hier jetzt einen Kampf, der Euch eigentlich keine Probleme bereiten soll. Sind 30 Orks in Eurn Augen ein Problem oder sollen es mehr oder weniger sein?", wäre das nun ja, zumindest für mich gewöhnungsbedürftig. Aber man könnte es ja auch mal ausprobieren.
Wenn man also dem SL zugesteht, dass er nicht gottgleich unfehlbar, sondern einfach ein Mensch wie alle anderen am Tisch auch ist, dann sieht der Gruppenkonsens halt vielleicht einfach Folgendes vor:
Entweder "das Vorher-Ermessen des SL ist unumstösslich und soll nicht durch ein Nachher-Ermessen angepasst/korrigiert werden können, selbst wenn das Vorher-Ermessen in quasi-willkürlicher Weise überschritten wurde".
Oder "das Vorher-Ermessen des SL soll durch ein Nachher-Ermessen angepasst/korrigiert werden können, so dass unsere ansonsten im Gruppenkonsens verankerte Spielweise nicht tangiert wird."
Um zum Ende zu kommen (Ihr habt's wirklich gleich geschafft
):
Wenn die Gruppe sich für die "Oder"-Variante, also eine Korrekturmöglichkeit des Vorher-Ermessens durch ein Nachher-Ermessen entschieden hat, bleibt die Frage, wie man das im Spiel umgesetzt haben möchte. Sollen/Wollen die Spieler davon etwas erfahren oder nicht? Sollen sie bei der Anpassung/Korrektur mitwirken (z.B. mit Vorschlägen oder durch Abstimmung usw.). Auch hier sollte die Gruppe eine ihrem Spielverständnis entsprechende Herangehensweise (oder verschiedene Herangehensweisen) entwickeln, wenn sich dauerhaft eine Zufriedenheit mit dem Spiel und Spass einstellen sollen. Da hat Babo schon ein paar Varianten genannt. Wichtig scheint mir halt einfach, dass es in die Situation passt.
Ich weiss aus eigener Erfahrung, dass es manchmal "blöde" Situationen gibt "die viel zu starken Wölfe greifen plötzlich hauptsächlich die Packponys an und ziehen eines davon ins Gebüsch, statt sich um die fast komplett ausgeschaltete Gruppe und den (im Vorneherein eigentlich gar nicht beabsichtigten) TPK zu kümmern" usw. (-> Fall von schlechtem Vorher-Ermessen).
Ich denke aber, selbst wenn mal ein etwas schaler Nachgeschmack bei einer korrigierten Szene bleibt, werden diese mit zunehmender Erfahrung des SL immer seltener vorkommen, und sonst sollte man eben auch einfach mal bei den Spielern nachfragen. Z.B. Das ist also wirklich eine Steile Wand, die ausser den Besten der Besten keine bezwingen können sollte. Was würdet ihr da für eine Modifikation geben?
Ach ja und Railroading: Das scheint mir eigentlich auch einfach die Frage danach, wie sehr ein SL sich durch die im (natürlich oft einfach nur konkludent bestehenden Gruppenkonsens) festgelegte Ermessens-Regelung an die zustande kommenden Ergebnisse gebunden fühlt.
So, nun wieder Ihr.
In den Spielberichten zu unserer MERS/Rolemaster/Hausregel-Gruppe "Die Isengart-Gruppe" (
http://www.tanelorn.net/index.php/topic,88674.0.html)könnt Ihr Euch an manchen Stellen ansehen, wie wir diese Dinge bei uns handhaben, wobei auch bei uns die "Dinge immer im Fluss" sind
Grüsse
torben