Um noch ein Randthema zu der von Contains Diseases m.E. im Schisma-Thread schön zusammengefassten Diskussion (
http://www.tanelorn.net/index.php/topic,99828.msg134416961.html#msg134416961) aufzumachen: Was macht eigentlich eine "gute Geschichte" aus?
Die Frage stelle ich vor dem Hintergrund, dass der gute/befriedigende Verlauf der Geschichte oft als Grund für die Unabdingbarkeit des Regelbruchs durch die SL angeführt wird. Typische angeführte Beispiele sind z.B. der im Endkampf viel zu früh das zeitliche segnende Hauptgegner oder die große Nemesis, die nach geplanten 2/3 der Kampagne von den SC besiegt wird, oder auch der SC, der sein leben sang-, klang- und bedeutungslos mit einem Goblinmesser in der Kehle ausgurgelt. Die viel zu frühe Enthüllung des Strippenziehers, usw. ...
All das kann man mit Recht unbefriedigend finden. Aber es steht in keiner Weise einer guten Geschichte entgegen - es steht lediglich einem ganz bestimmten Schema von Geschichte entgegen, bei der der Held/die Helden gegen einen Erzfeind oder ein übel zu Felde ziehen, unterwegs herbe Rückschläge einstecken und am Ende wider alle Wahrscheinlichkeit doch noch knapp den Sieg davontragen (die pratchett'sche Chance von 1:1 Million halt). Ein Schema, dass wahrscheinlich am klarsten in guten Action-Filmen zum Ausdruck kommt.
Der Vorteil dieses Schemas ist, dass alle, die mit klassischen Abenteuer-Genres vertraut sind, es intuitiv beherrschen und es im Rollenspiel in der Regel auch anwenden, indem sie auf genau solche Verläufe hinspielen. Die meisten Spieler
wollen Rückschläge, anhand derer ihre SC beweisen können, dass sie trotzdem fähig sind, sich durchzubeißen, und sie wollen zumindest gefühlt knapp gewinnen. Und wenn gerade letzteres "gefühlte knappe Gewinnen" erzielt werden soll, dann MUSS die SL bereit sein, stillschweigend die Regeln zu brechen.
Der Nachteil des Schemas ist, dass es durch seine Vertrautheit auch ziemlich langweilig werden kann. Ich persönlich lege Bücher weg, wenn ich merke, dass sie auf dieses Schema hinauslaufen - bei Filmen nehme ich das schon eher in Kauf oder genieße es auch, sind ja nur zwei Stunden oder so ... begeistern tue ich mich in der Regel aber doch eher für Geschichten, die mit diesem Schema brechen, es unterwandern oder erst gar nicht zum Einsatz bringen.
Im Rollenspiel bin ich da ambivalent: Das Schema macht mir gerade als Spieldramaturgie durchaus Spaß; gerade, wenn Geschichten nach diesem Schema aber zu großem Drama aufgebauscht ("Du hast meinen Bruder getötet, jetzt bist du des Todes!") werden, kann ich das nur noch als Zitat eines Klischees genießen. Szenen, die als besonders immersiv gelten, weil sie das Schema besonders gut erfüllen, reißen mich gerne mal am meisten raus, weil ich da gar nicht anders kann als in die Meta-Perspektive zu gehen. Ich muss mich dann auch schwer zusammenreißen, um solche Szenen nicht irgendwie zu ironisieren. Das macht schon auch alles Spaß, aber eher im Sinne einer liebevoll-ironischen Kommunikation über vertraute Genreelemente. Schön und gut, aber ich tue mich schwer damit, mir so etwas als höchstes der Gefühle in Sachen "gute Geschichten" verkaufen zu lassen.
Da kommt für mich dann die Regeltreue ins Spiel. These: Wenn alle das Schema kennen und beim Spiel intuitiv befolgen, sind die Regeln dazu da, es immer mal wieder zu brechen. Plötzlich ist der Hauptgegner zum völlig falschen Zeitpunkt Matsche. Plötzlich wird der angekettete Prinz gefressen und die Gruppe hat gar keine andere Wahl, als sich auf einen Deal mit dem Drachen einzulassen. Das kann man unbefriedigend finden, und es kann die Vorbereitung der SL über den Haufen werfen. Aber der große Vorteil davon ist, dass man locker nach Gefühl - nach Schema - spielen kann und trotzdem eine Geschichte herausbekommt, die immer wieder mit dem Schema bricht. Das Gespür der Gruppe für Klischees ist der Kleber, der die Geschichte thematisch zusammenhält, die darauf einprasselnden Würfel sorgen für Brüche.
Mir ist schon klar, dass gerade der Bruch mit dem intuitiv angestrebten Schema von vielen auch als enttäuschte Erwartung erlebt wird - und vielleicht steckt da dann auch wirklich eine gewisse Inkompatibilität von Erwartungen drin. Für viele ist die Geschichte ohne eine befriedigende Abschlusskonfrontation eben keine gute Geschichte. Für mich ist die befriedigende Abschlusskonfrontation eher ein Spiel-Element, das Spannung erzeugen und Spaß machen kann; aber auf der Ebene der Geschichte bin ich wahrscheinlich deutlich begeisterter über den Oberbösewicht, der auf halbem Weg von einem Querschläger getötet wird. (nebenbei: meine beiden absoluten Lieblings-Shadowrun-Romane sind
Pesadillas und
Wiedergänger von Maike Hallmann, in denen genau so Zeug passiert ...)
So würde ich dann auch das Gebot für die SL, sich an die Regeln zu halten, für mich persönlich fassen: Der Moment, in dem die Regeln zum Einsatz kommen, ist der, in dem offen gesagt wird: Wir überlassen den Verlauf jetzt einem Mechanismus, der nicht von unserer auf ein bestimmtes Schema gepolten Intuition gesteuert wird, damit wir potenziell etwas anderes herausbekommen. Wenn dann die SL ein unerwartetes Ergebnis wieder auf das Schema einnordet, dann wird eben die Abmachung, um die es für mich an diesem Punkt geht, gebrochen.