Ich schreibe meine Rezi als Antwort auf Kritik, die mir im Hinblick auf RT so begegnet ist - einen guten Überblick darüber, wie das System im Einzelnen funktioniert, bietet die
Rezension bei den Teilzeithelden.
RT ist für längeres Spielen nicht geeignet...Kann ich nicht nachvollziehen. Im Gegenteil zeichnet sich RT gegenüber anderen Indies gerade dadurch aus, dass sich lange Bögen fast schon von selbst ergeben. Bisweilen mögen die drei, für das Ende einer Episode nötigen, "Exits" schnell erreicht sein, aber in meinen bisherigen Runden war das definitiv nicht der Fall. Hutton geht im Text auch dezidiert von mehreren Episoden aus, was Sinn macht, wenn z.B. herausgespielte Charaktere wieder auftauchen sollen. Und bei mir löst RT mehr als jedes andere vergleichbare Rollenspiel das Bedürfnis aus, weiterzumachen und zu schauen, wo die Story Charaktere und das Konvolut an anderen Parteien hinspült. Das Problem dabei ist wohl eher, nicht den Überblick zu verlieren - es hilft der Protokollbogen.
RT ist zu mechanisch... Verglichen womit, ist die Frage. Ich finde die Regeln machen von Anfang an das, was sie sollen, nämlich Impulse/Ideen für Szenen/Plots und dem Ganzen eine Richtung zu geben. Gerade an die positiven und negativen Zustandsmarker kann man zudem wirklich leicht anknüpfen, so dass es kaum hakt. RT kennt nur Scene resolution, aber unser Modus, die Szene bis an den Punkt zu spielen, wo die Frage nach dem Ausgang im Raum steht und nach dem Wurf entsprechend zu schließen, wirkte auf mich storytechnisch rund und alles andere als unangenehm crunchy.
RT spielt man am Ende irgendwie allein...Nope. Wirklich allein ist man nur in den kurzen Introduction-Szenen, wobei ich auch da schon Rollen an Mitspieler verteilt habe. Deal-Szenen bieten sich qua ihrer Natur dazu an. Die Face-Off-Szenen wiederum spielt man meistens gegen einen anderen SC, d.h. in RT ist es wichtig, den Überblick über alle Plots zu haben, zumal man auch mechanisch dafür belohnt wird. Das meint Hutton wohl, wenn er über RT sagt:
The interesting thing about this game is that it rewards those that listen to other players.
Ja, in RT gibt es nicht nur keinen SL, sondern auch keinen beziehungstechnisch, lokal oder über eine gemeinsame Aufgabe gebundenen Cast. Dazu kommt, dass man zusätzlich zum eigenen SC eine ganze Reihe anderer Rollen übernimmt und dieser immer nur "gehalten" ist, d.h. ausgetauscht werden kann. Und ja, das Ziel einer Episode ist, seinen SC aus dem Spiel zu nehmen. Das ist zwar alles ungewöhnlich, der zugrundeliegende Spielmodus aus Scene Framing, Spielen und mechanischer Auflösung unterscheidet sich aber nicht von anderen Rollenspielen. Gleichzeitig motiviert RT wie gesagt dazu, den Pool an Charakteren und Fraktionen zu vergrößern bzw. vorhandene Nebenfiguren, Sub-Plots und undurchsichtig gebliebene Parteien im Hintergrund wieder aufzugreifen und herauszufinden, wohin das die SC führt.
RT erlaubt nur drei Arten von Szenen... Stimmt. Für jemanden wie mich, den kaum etwas mehr aufregt als zielloses Herumeiern ohne Plotrelevanz und die damit unweigerlich verbundene Redundanz, ist das perfekt. Die Introduction-Szene als Ausgangspunkt für einen Handlungsstrang. Die Deal (with the Devil)-Szene als einzige Möglichkeit, den eigenen SC und seinen Handlungsstrang außerhalb einer Konfliktsituation weiterzuentwickeln - das geht allerdings, wie könnte es in einem Noir-Spiel anders sein, auf Kosten aller. Die Face-Off Szene für den Konflikt.
RT lässt mich meinen SC nicht aktiv spielen... Stimmt. Der große Clou. RT hält mich an, mit Fraktionen oder Pool-Charakteren gegen die SC der anderen zu spielen und so deren Handlungsstränge voranzutreiben. Dadurch entstehen die voneinander abgegrenzten Schauplätze, Leben und Plots, die RT auszeichnen und wie in einem entsprechend aufgebauten Roman oder Film dazu beitragen, Setting und Geschichte aus verschiedenen Perspektiven zu erschließen. Es gibt wohl nicht viele Rollenspiele, denen es gelingt, so einen Aufbau, der für ein Gruppenspiel auf den ersten Blick ungeeignet scheint, möglich zu machen. [Andere Beispiele
sammle ich hier].
Auf der anderen Seite macht das RT zu dem Noir-Rollenspiel überhaupt. Entfremdetete Protagonistinnen und Protagonisten, die unerwartet in ein urbanes bzw. globales Netz divergierender Interessen und Pläne verwickelt werden, eine rücksichtlose Maschinerie, der sie sich nicht entziehen können, und die dabei irgendwie über Wasser bleiben müssen. Der Fokus liegt dabei weder auf technologischer Spielerei - Ausrüstung spielt in RT regeltechnisch kaum eine Rolle - noch handelt es sich um ein
Procedural, sei es in Form eines perfekt geplanten "Runs", einem Kriminalfall, einer (para)militärischen Operation et cetera. Im Mittelpunkt stehen die Ziele der Charaktere im Auf- und Ab ihrer persönlichen Verfassung. Die häufig wechselnden positiven und negativen Zustandsmarker erinnern nicht von ungefähr an Greg Stolzes A Dirty World. Gregor Hutton formuliert es so:
At its heart I wanted the game to reach for what I liked in literary cyberpunk stories (underneath the fetishism and the retconned lie that somehow "cyberpunkers" were out to help the world at large). They were disparate (and desperate) characters, definitely not in a "party", with individual goals, situations and issues weighing upon them, and with some leverage that they could bring to bear. And they were crashing into each other -- sometimes helping each other out and sometimes crushing each other. At the end of the day they come and go in a world that is bigger than the little snapshots of them that we get to see.
5/5 Punkten.
Wenn ich nur ein Rollenspiel behalten könnte, wäre es Remember Tomorrow.
---
Spanische Übersetzung mit einem... anderen Cover:
Hacks:
RPGVice - Hack ins kriminelle Nachtleben des Tokyoter Vergnügungsviertels Roppongi.
Remember Edo - Hack ins Japan der Edo-Zeit. Leider nur noch auf scribd.
Remember your Wand - Hack für Harry Potter (!).
Actual Play:
Mentally Un-table Podcast - Leicht übertrieben. Minute 0:32:00-0:35:00 in RT Session 1 Episode 1 ist ein perfektes Beispiel für eine Introduction-Szene, allerdings in Sin City statt Somewhere.
Ein paar Let's Plays - gespielt wird hier nach den für mich zu stark vereinfachten
Hausregeln von Storygames Seattle.